Am 22. Februar um punkt 19.30 Uhr veränderte sich das Betriebssystem einiger Mercedes-Modelle. Denn genau zu diesem Zeitpunkt erhielten verschiedene Modelle wie die aktuelle S-Klasse ein drahtloses Update aufgespielt, mit dem sie jetzt erstmalig auf Google Points of Interests (POI) zugreifen können. Die nächste Veränderung erfährt das System im Sommer, wenn die E-Klasse mit neuen Funktionen wie einer Soundvisualisierung inklusive Dolby Atmos ausgestattet wird.
Aber das ist nur der erste Schritt zu einem „nächsten großen Ding“, wie es im Silicon Valley heißt. Mercedes nennt diese Ausbau-Stufe MB.OS 0.8. Die Ziffern sagen: Das ist noch nicht das ganze Paket. Auf die Version 1.0 des neuen Betriebssystems MB.OS müssen die Kunden noch rund 20 Monate warten. Zur Mitte des Jahrzehnts krempelt Mercedes seine Technik komplett um. Dann bekommen die Kompakt- und Mittelklassemodelle auch eine neue Fahrzeug-Architektur verpasst: Die Mercedes-Benz Modular Architecture (MMA) ist für Elektroantriebe konzipiert.
Bei Mercedes kommt die Einführung der neuen digitalen Architektur einer Revolution gleich. Schließlich bricht man gleich mit mehreren Traditionen: Das neue Betriebssystem trägt den Namen MB.OS und ist ein sogenanntes Chip-to-Cloud-System. „Damit kontrollieren wir die Befehlskette vom Schalter bis zur Cloud“, erklärt Vadim Weis, der sich um die Integration der Apps kümmert. Statt einer Vielzahl von Steuergeräten sind es beim MB.OS nur noch vier. Also ebenso viele wie bei Tesla.
Großer Schluck aus der Tesla-Tasse
Ohnehin haben die Mercedes-Entwickler einen großen Schluck aus der Tesla-Tasse genommen. „Wir denken das Auto neu“, sagt Mercedes-Chef Ola Källenius. Und zwar in Domänen. Also das, was die Truppe um Elon Musk bereits vor zehn Jahren begonnen hat. „Wir packen erstmals einen Super Computer in den Mercedes“, strahlt der Schwede bei der Vorstellung der neuen Architektur im Forschungszentrum des Konzerns im Silicon Valley.
Doch auch hier gilt: Besser spät als nie. Doch wenn man eine Software-Revolte anzetteln will, muss man auch in Schwaben alte Zöpfe abschneiden. Das Betriebssystem, das unter anderem die Fahrassistenz-Systeme, die Navigation und Unterhaltung sowie die Bereiche Laden und Energieverbrauch kontrolliert, haben die Mercedes-Techniker selbst entwickelt. Da es auf Linux basiert, ist es offen für Partner wie Nvidia, die ebenfalls am Robo-Auto tüfteln. „Das Ziel beim MB.OS ist automatisiertes Fahren Level 3 bei Tempo 130 km/h“, erklärt Software-Chef Magnus Östberg. Um das zu erreichen, packt der Autobauer einen Luminar Hightech-Lidar der nächsten Generation ins Fahrzeug. Der ist nicht nur sehr kompakt, sondern auch sehr leistungsfähig.
Zudem schaffen die Schwaben eine Plattform, auf der verschiedene Android-Apps laufen. Das bedeutet: Mercedes holt – wie zuvor schon Polestar, Volkswagen und Renault – Google ins Auto und damit auch die Navigationssoftware Google Maps. „Das Ziel ist, MB.OS so gut zu machen, dass man das Telefon nicht spiegeln muss“, macht Mercedes Entwicklungsvorstand Markus Schäfer klar.
Künftig nur noch Mieter im eigenen Haus?
Ist das also das Ende von Here? Jenen Kartendienst, den Mercedes gemeinsam mit Audi und BMW 2015 für 2,8 Milliarden Euro gekauft hat. „Nein!“, widerspricht Källenius. „Wir arbeiten weiter mit Here zusammen. Ebenso mit Apple!“ Doch die Richtung ist bereits eingeschlagen, auch wenn der schwäbische Autobauer die Offenheit der Plattform für alle potenzialen Partner predigt. Mercedes-Experten vergleichen das neue Betriebssystem mit einem Haus, das dem Autobauer gehört, bei dem man sich eine Wohnung mieten, aber nicht kaufen kann.
Bei allen Lobhudeleien und dem gegenseitigen Schulterklopfen ist aber auch klar, dass Google kein Wohlfahrtsunternehmen ist, sondern sich seine Teilnahme an der neuen schönen Mercedes-Welt bezahlen lässt. Experten munkeln von einer jährlichen Lizenzgebühr in zweistelliger Millionenhöhe. „Wir kommentieren keine Zahlen“; wiegelt der Mercedes-Chef ab und ergänzt: „Es ist eine Win-Win-Situation.“ Mal sehen, wie sich die Bilanz Ende des Jahrzehnts darstellt. Software-gestützte Umsätze sollen nach den Vorstellungen von Finanzchef Harald Wilhelm bis zum Ende des Jahrzehnts immerhin einen hohen einstelligen Milliarden-Betrag ausmachen.
„Angry Birds“ fährt mit
So oder so verwandelt sich der Mercedes des Jahres in eine Art rollendes Android-Tablet mit Googles Video-Plattform YouTube oder etlichen Spielen. Auf den Rücksitzen kann man sich per Amazon Fire Stick auch weitere TV-Programme und Streamingdienste ins Auto holen. Natürlich will die Sternen-Marke mit dem neuen System auch Geld verdienen. Dabei reicht die Bandbreite von Ausstattungsdetails, die nachträglich freigeschaltet werden können (MB Connect), bis hin zum autonomen Fahren auf Level 3 (MB Drive). Und selbstverständlich wird es für die Elektromodelle unter „MB Charge“ auch spezielle Lade-Angebote wie Flatrates oder Batterie- und Software-Updates geben. Irgendwann mal sollen die Autofahrer aus Tausenden von Spielen wählen können – aktuell ist lediglich der virtuelle Steinschleuder-Klassiker „Angry Birds“ an Bord.
Durch die offene Plattform kann man das Infotainment je nach Region maßschneidern: also Google für Nordamerika, aber etwas anderes etwa für China, wo man mit den Karten von AMAP und Cloud-Diensten von Tencent arbeiten wird. Auch die Wünsche der Autofahrer fließen in die Verbesserungen ein. „Wir machen nichts ohne die rechtliche Zustimmung der Kunden“, stellt Östberg klar. Deswegen habe auch die Datensicherheit einen hohen Stellenwert.
„Durch die steten Updates wird das Auto niemals alt“, ergänzt Markus Schäfer und verweist auf sein Smartphone. Doch jeder, der ein Apple iPhone sein Eigen nennt, weiß, wie oft und schnell dort Updates nachgebessert werden müssen. In einem Auto sind solche Operationen am offenen IT-Herzen ein No-Go – da muss jede Verbesserung gleich sitzen.