So können sich die Gewichtungen innerhalb eines Automobilkonzerns verschieben. Noch vor ein paar Jahren war Polestar Volvos hippe, aber kleine Elektro-Tochter – jetzt bekommt der Polestar 3 bei der Weltpremiere drei Wochen Vortritt. Das ändert nichts an der Tatsache, dass der Volvo EX90 zwar ein Nachzügler, aber ein sehr ansehnliches Elektroauto geworden ist, das sowohl außen als auch innen die Karte des schnörkellosen skandinavischen Designs spielt. Der EX90 sofort als Volvo zu erkennen, und das ist auch so gewollt.
Das große E-SUV teilt sich mit dem sportlicher gestylten Polestar 3 zwar die technische Basis in Form der so genannten Scalable Product Architecture (SPA II). Da die Produktplaner in Schweden aber keine Amateure sind, tun sie alles, um eine Kannibalisierung, also eine konzerninterne Konkurrenz um die Kundschaft, zu verhindern.
Das betrifft hauptsächlich den Innenraum. Obwohl beide Elektroautos nächstes Jahr mit einem identischen Radstand von 2,98 Metern zum Händler rollen, werden im Volvo EX90 drei Sitzreihen angeboten, auf denen bis zu sieben Personen Platz finden. Polestar hingegen setzt bewusst auf die klassische Zwei-Reihen-Konfiguration – eine Besetzung mit mehr als fünf Personen ist nicht vorgesehen. Aus diesem Grund fällt der Volvo EX90 mit 5,04 Metern auch um 14 Zentimeter länger aus als des Schwestermodell.
Reichweite bis zu 600 Kilometer
Kommen wir zu den weiteren technischen Details. Mit einer Speicherkapazität von brutto 111 Kilowattstunden (107 kWh sind davon für den Fahrbetrieb nutzbar) ist die Energiequelle bei beiden E-SUVs identisch. In Kombination mit mit dem 300 kW (408 PS) starken Basisantrieb sollen damit Reichweiten um die 600 Kilometer möglich sein.
Grundsätzlich verfügt der Volvo EX90 immer über einen Allradantrieb. Als erstes Modell kommt im Frühjahr die Topversion mit 380 kW (517 PS) Leistung, einem Drehmoment von 910 Newtonmetern (identisch zum Polestar 3 mit Performance Pack) und 590 km Reichweite auf den Markt. Der Sprint von null auf 100 km/h soll damit in 4,9 Sekunden gelingen. Wie inzwischen bei Volvo üblich, wirft bei 180 km/h die Elektronik den Anker. Der Polestar darf immerhin bis 210 km/h unterwegs sein.
Maximal 30 Minuten Ladepause
Die zweite Modellvariante ist die eben erwähnte Long Range-Version. Und zuletzt eine Variante des Volvo EX90 mit 370 kW (503 PS)Antriebsleistung – mit identischen Fahrleistungen. Gedacht ist sie vermutlich primär für die USA, wo der EX90 ab 2023 im Werk Ridgeville/South Carolina produziert wird. Ein Jahr später sollen die ersten Fahrzeuge in China vom Band laufen.
Das Laden soll per Volvo Car App, die den Zugang zu verschiedenen Ladesäulen per Smartphone bündelt, besonders kundenfreundlich sein. An einer Gleichstrom-Schnellladesäule sind die Akkus innerhalb einer halben Stunde von null auf 80 Prozent Ladestand gefüllt. Die exakten Ladeleistungen hat Volvo noch nicht genannt. Der EX90 wird auch der erste Volvo sein, der bidirektionales Laden serienmäßig unterstützt, also elektrische Geräte, das eigene Haus oder auch das öffentliche Stromnetz mit Energie versorgt.
Das Besondere daran: Im Unterschied zu Volkswagen unterstützt der neue Volvo das sowohl bi-direktionale Laden mit Wechsel- als auch mit per Gleichstrom, wie Lutz Stiegler, Solution Manager Electric Propulsion bei Volvo Cars, kürzlich im Gespräch EDISON erklärte. „Wenn wir nur DC anbieten würden, muss der Onboard-Charger das nicht können, da reicht eine reine Lade-Funktion. Aber die Wallbox braucht dann einen eigenen Wechselrichter braucht, was für den Kunden sehr teuer wird.“
Volvo dient als Pufferspeicher
Volvo wird deshalb zusammen mit dem Fahrzeug zunächst nur eine normale, relativ günstige AC-Wallbox anbieten, welche die ISO-konforme Kommunikation für bidirektionales Laden unterstützt. „In Zukunft“, kündigte Stiegler an, „wird es ein Komplettpaket für die Kunden geben, die auch eine Solaranlage und einen Heimspeicher möchten – das ist dann die DC-Wallbox.“ Volvo hofft auf diese Weise einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen der Energiewende zu leisten – mit dem EX90 als rollendem Pufferspeicher. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
Beim Innenraum sticht die Verwandtschaft des EX90 mit dem Polestar 3 sofort ins Auge. Angefangen vom großen senkrecht stehenden 15 Zoll, dem Lenkrad und dem digitalen Info-Balken hinter dem Volant. Da verwundert es wenig, dass auch beim EX90 das Infotainment auf Googles Android basiert, was sicher Vorteile hat, da man eine ausgefeilte Softwarelösung aus einem Guss erhält, inklusive der Navigation mit Google Maps. Für die Konnektivität und die drahtlosen Updates sorgt ein 5G-Chip, der Daten mit einer hohen Geschwindigkeit in das digitale Großhirn des Volvo EX90 schaufelt.
Dank der Rechenpower von Qualcomms Snapdragon Chip in Kombination mit Nvidias Drive AI Plattformen Xavier und Orin umfasst das Unterhaltungsprogramm auch Spiele, die im Zusammenspiel mit den 25 Lautsprechern des Bowers & Wilkins Dolby Atmos-fähigen Audi Systems den Nachwuchs auch bei langen Strecken beschäftigt. Der Fahrer freut sich indes über hochauflösende Grafiken auf den Bildschirmen und dem Head-up-Display.
Lidar bringt Sicherheit in der Dunkelheit
Traditionell spielt bei einem Volvo die Sicherheit eine große Rolle. Das ist beim EX90 nicht anders und die Hochleistungscomputer sind in erster Linie dafür da, um die Daten der Sensoren zu verarbeiten. Sobald der EX90 mit Lidar-Sensorik ausgestattet ist, ist das Nvidia-System in der Lage, ein 360-Grad-Abbild der Umgebung zu kreieren, eine der Voraussetzungen für das autonome Fahren, das der Volvo irgendwann mal beherrschen soll. Wie beim Polestar 3 soll auch der Volvo EX90 automatische Spurwechsel beherrschen.
Volvo bezieht bei den Assistenzsystemen nicht nur wie bisher das Umfeld des Fahrzeugs ein, sondern auch den Innenraum: „Spezielle Sensoren und Kameras, die von unseren eigenen, intern entwickelten Algorithmen angetrieben werden, messen die Blickkonzentration“, hatte Volvo-Chef Jim Rowan bereits im Vorfeld der Weltpremiere angekündigt. „Die Technologie ermöglicht es dem EX90 zu erkennen, wenn Sie abgelenkt, müde oder anderweitig unaufmerksam sind, was weit über das hinausgeht, was bisher in einem Volvo-Auto möglich war.
Jetzt würde man noch gerne wissen, was der Spaß kosten wird: Preise hat Volvo bei der Weltpremiere noch nicht genannt. Für den Polestar 3 werden wenigstens 89.900 Euro aufgerufen. Wetten, dass der Volvo EX90 nicht preiswerter wird?