In China steht eine nukleare Weltpremiere an: In wenigen Wochen geht in Wuhei am Rande der Wüste Gobi ein Flüssigsalzreaktor der vierten Generation erstmals in Betrieb. Nach Ansicht der Entwickler am Shanghai Institute of Applied Physics (SINAP) ist es die „perfekte Technologie“ – nicht nur, um China bis 2050 klimaneutral zu machen, sondern auch den Rest der Welt mit großen Mengen Strom zu versorgen. Und zwar ohne jegliches Sicherheitsrisiko – und deutlich preisgünstiger als die gegenwärtig am meisten eingesetzten Druck- oder Siedewasserreaktoren (SWR).

Das Kernkraftwerk des neuen Typs, an deren Entwicklung auch deutsche Forscher indirekt mitwirkten, kennt keine Beschaffungsprobleme beim Brennstoff. Er ist so klein, dass er auf einen Lkw passt, also in Fabriken im Baukasten-Stil vormontiert werden kann. Er produziert nur wenig Atommüll und er kann obendrein nicht katastrophal versagen: Bei Störfällen fährt er sich automatisch selbst herunter. Ein echtes Wunderding – das eine Renaissance der Kernkraft einleiten könnte. Zum Jahreswechsel hat Japans Wirtschaftsminister Koichi Hagiuda bereits angekündigt, zusammen mit den USA am Bau eines Flüssigsalzreaktors zu beteiligen – ein Projekt, das auch Microsoft-Gründer Bill Gates unterstützt.

Als Brennstoff dient beim Meiler in Wuhei statt Uran das nur schwach radioaktive Element Thorium, das in Flüssigsalz aufgelöst wird. Um es nutzen zu können, wird es zunächst mit Neutronen beschossen, ehe es im Salzfluss in den Reaktor strömt. Die Thoriumatome fangen die Teilchen ein und integrieren sie in ihre Atomkerne. So entsteht Uran 233, ein spaltbares Material, das im Reaktor zertrümmert wird. Dabei werden große Wärmemengen frei, die die Mischung aus Flüssigsalz, Thorium sowie den Spaltprodukten in einen Wärmetauscher befördert. Dort gibt der Flüssigmix seine Energie an ein Gas ab, das in einem Turbogenerator Strom erzeugt. Das Gas fließt, nachdem es seine Wärmeenergie abgegeben hat, in den Wärmetauscher zurück, um erneut erhitzt zu werden – ein perfekter Kreisprozess.

Einfacher Aufbau, hochkomplexe Technik 
Schematische Darstellung des Thorium-Flüssigsalzreaktors von Wuhei. Grafik: Sinap
Einfacher Aufbau, hochkomplexe Technik
Schematische Darstellung des Thorium-Flüssigsalzreaktors von Wuhei. Grafik: Sinap

Das Thorium muss nur zum Reaktorstart mit Neutronen beschossen werden. Bei der Spaltung des daraus entstehenden Urans werden sehr viele Neutronen frei, die von weiteren Thoriumatomen eingefangen und in Uran umgewandelt werden. Der Flüssigsalzreaktor produziert also seinen Brennstoff selbst – ähnlich wie der Schnelle Brüter, der nicht spaltbares Uran 238 in den Reaktorbrennstoff Plutonium umwandelt. Auf den Neutronenbeschuss kann auch verzichtet werden, wenn anfangs neben Thorium eine Prise Uran 233 unter das Flüssigsalz gemischt wird.

Eine Kugel könnte eine Großstadt mit Strom versorgen

Carlo Rubbia, der 1984 den Nobelpreis für Physik bekam, sagt, dass der Energiegehalt von einer Tonne Thorium dem von 200 Tonnen Natur-Uran entspricht. Sieben Gramm Natur-Uran wiederum entsprechen energetisch einer Tonne Kohle. Daraus folgt, dass eine Tonne Thorium, in Flüssigsalzreaktoren eingesetzt, 28 Millionen Tonnen Kohle ersetzen würde. Eine tennisballgroße Thoriumkugel genügte somit für eine einwöchige Stromversorgung von ganz London .

Da derartige Thorium Flüssigsalzreaktoren immer weniger Atome spalten, je heißer sie werden, schalten sie sich selbstständig ab, ehe es gefährlich werden kann. Unfälle und Katastrophen wie in Three Mile Island in den USA, Tschernobyl und Fukushima wären also ausgeschlossen.

Werden Endlager für Atommüll nun überflüssig?

Ein Teil des Flüssigsalzgemischs wird zudem regelmäßig abgezweigt, um es von Atommüll zu befreien. Die gasförmige Fraktion perlt selbstständig aus und wird eingefangen. Der feste, feinkörnige un ddeshalb leichter zu lagernde Atommüll muss chemisch-physikalisch vom Flüssigsalz getrennt werden. Die chinesischen Forscher sagen, dass 99,99 Prozent des Atommülls nach spätestens 300 Jahren in harmlose Elemente zerfallen sind. Eine Variante der Technologie erlaubt es sogar, existierenden Atommüll zu „verbrennen“ – ein Endlager dafür würde also überflüssig. Unbehandelter Atommüll aus Leichtwasserreaktoren bleibt dagegen hunderttausende Jahre gefährlich und muss tief in der Erde aufwändig eingelagert werden.

Über die ganze Welt verteilt 
Lieferprobleme sollte es bei Thorium keine geben, auch keine Monopole: Größere Thorium-Vorkommen gibt es fast überall auf der Welt, mit denen sich Flüssigsalzreaktoren wenigstens 150 Jahre betreiben ließen. Grafik: OECD NEA/IAEA
Über die ganze Welt verteilt
Lieferprobleme sollte es bei Thorium keine geben, auch keine Monopole: Größere Thorium-Vorkommen gibt es fast überall auf der Welt, mit denen sich Flüssigsalzreaktoren wenigstens 150 Jahre betreiben ließen. Grafik: OECD NEA/IAEA

Der jetzt vor der Inbetriebnahme stehende kleine Reaktor in Wuhei hat eine thermische Leistung von mageren zwei Megawatt. Eine Stromerzeugung ist aber vorerst nicht geplant: Den Entwicklern wollen erst einmal sehen, ob das Konzept funktioniert. Woran sie selbst natürlich keinen Zweifel haben. Denn der Zeitplan für die weitere Zukunft steht bereits fest. Im Jahr 2030 soll der erste Prototyp mit einer elektrischen Leistung von 373 Megawatt in Betrieb gehen. In schneller Folge sollen dann weitere Anlagen überall im Land errichtet werden. Nach Auffassung der chinesischen Regierung können sie wesentlich dazu beitragen, das Klimaziel des Landes zu erreichen. Spätestens 2060 soll im Reich der Mitte kein Kohlenstoffdioxid mehr emittiert werden.

Bei Uran drohen Lieferengpässe

Tatsächlich könnte Thorium-Reaktoren die Zukunft gehören – nicht nur nach Auffassung der chinesischen Nuklearforscher. „Im Moment gibt es genug Uran, um alle in Betrieb befindlichen Reaktoren mit Brennstoff zu versorgen“, sagt Sylvain David, stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des staatlichen Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Frankreich und Experte für neuartige Reaktoren. „Aber wenn die Zahl der Kernkraftwerke weltweit wieder zunimmt, könnten wir in eine Situation kommen, in der die Versorgung nicht mehr Schritt hält und wir auf Thorium angewiesen sind.“

Und Thorium ist im Unterschied zu Uran noch reichlich auf der Erde vorhanden und nicht nur in wenigen Ländern. Die weltweiten Vorkommen werden auf über sechs Millionen Tonnen geschätzt, die größten bekannten liegen in Brasilien und Indien (s. Grafik). Das sollte nach Ansicht von Experten locker eine Stromversorgung in den nächsten 150 Jahre reichen.

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