Matthijs Keuning schwingt sich jeden Morgen auf sein Fahrrad und fährt auf dem Leidseweg in Richtung Innenstadt. Auf dem rot geteerten Radweg kommen dem 28-Jährigen ausschließlich andere Radfahrer entgegen – Autos sind hier nicht zugelassen. Über eine Fahrradbrücke hinweg geht es über den Kanal und vorbei an der alten Holzsägemühle de Ster zum neuen Rathausturm direkt neben dem Bahnhof. Hier befindet sich in der 20. Etage des Hochhauses der Arbeitsplatz des Verwaltungsangestellten.
Vor dem Bahnhof gibt es doppelstöckige Fahrradständer, doch die Metallkonstruktion ist kein Hingucker und die meisten Abstellmöglichkeiten sind morgens um Acht schon belegt. In Utrecht radeln immerhin täglich 125.000 Menschen zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Schule oder in die Uni. All die Räder müssen irgendwo parken. Darum stehen entlang der Radwege elektronische Displays, die freie Stellplätze in den 16 Fahrradgaragen der Innenstadt anzeigen. Die „grootse fietsenstalling ter wereld“, also die weltgrößte Fahrradgarage, ist gerade fertiggestellt worden. In der dreigeschossigen Anlage kommen 12.500 Räder unter. Sensoren erfassen freie Plätze und leiten die Radler per Lichtsignal dorthin. Unter der Erde gibt es einen Fahrradladen samt Werkstatt sowie eine Leihfahrrad-Station der staatlichen Bahngesellschaft. Davon können wir hierzulande nur träumen.
Aber das Fahrradfahren hat in den Niederlanden eben einen anderen Stellenwert als im Autoland Deutschland. Und ein emissionsfreier, klimaneutraler Verkehr ist den Bewohnern der Pendlerhochburg Utrecht wichtig. Von hier sind es 70 Kilometer bis nach Den Haag, 60 Kilometer bis Rotterdam. Amsterdam und der internationale Großflughafen Schiphol liegen nur 50 Kilometer entfernt. Kein Wunder, dass der Bahnhof von Utrecht mit 1500 Zügen und 280.000 Reisenden pro Tag zu den meistfrequentierten des ganzen Landes zählt. „Ich muss oft dienstlich nach Amsterdam. Mit Fahrrad und Zug gelingt das in 45 Minuten von Tür zu Tür“, sagt Keuning. Ein Auto besitzt er nicht. Was sollte er damit auch?
Keine Stadt wächst schneller
Utrecht ist die viertgrößte Stadt der Niederlande mit aktuell rund 350.000 Einwohnern. Gegründet haben sie die Römer vor bald 2000 Jahren an einem Seitenarm des Rheins. Im Mittelalter war die Stadt Bischofssitz. Den Verlauf der ehemaligen Stadtmauer rund um den Dom kann der Besucher anhand eines Kanals noch gut nachvollziehen. In den engen Straßen konkurrierten lange Anwohner und Touristen; Lieferfahrzeuge, öffentlicher Nahverkehr und Pkw sorgten für dicke Luft.
Utrecht hat sich 2017 deshalb für eine radikale Lösung der Verkehrsprobleme entschieden: Bis 2025 wird der historische Innenstadtbereich eine „Zero Emission“-Zone. Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor will die Verwaltung komplett aussperren, nur noch Elektromobile und Fahrräder sollen freie Fahrt haben. Trotzdem – oder gerade deshalb – will die Stadt weiter wachsen. Mehr Lebensqualität bedeutet mehr Einwohner, so die Logik. „Schon jetzt ist Utrecht die am schnellsten wachsende Stadt des Landes“, sagt Lot van Hooijdonk voller Stolz. Die Stadträtin ist für Mobilität und Verkehr verantwortlich.
Autos müssen draußen bleiben
Van Hooijdonk steht am Fenster des Konferenzsaals im 12. Stock des Rathauses und blickt in Richtung Dom. Viele der Straßen rund um den 112 Meter hohen Westturm sind bereits Fußgängerzone, ab 11.30 Uhr dürfen keine Autos mehr einfahren. Doch die rund 550 Kneipen und Restaurants in der Altstadt wollen regelmäßig beliefert werden. Nun kommen Bier und Genever mit Elektrobooten über den Kanal. Auch der Müll wird auf diesem Weg entsorgt.
Kühltransporter haben feste Parkplätze im Viertel mit Stromanschluss. Mitarbeiter der Cafés und Restaurants holen die Lebensmittel mit Lastenrädern direkt am Laster ab. Die Post- und Paketboten sind mit E-Bikes und elektrischen Transportern ‧unterwegs, mit Elektro-Rollern lassen Restaurants und Lieferdienste Essen zu den Kunden transportieren. Das Projekt in der Altstadt heißt „Green Deal“ und ist Teil der geplanten Umweltzone.
Die größte Herausforderung für die Stadträtin liegt jenseits des Bahnhofs, im Smart Sustainable District, einem Stadtteil für clevere Nachhaltigkeit. Hier liegt das Jaarbeurs-Gelände mit Veranstaltungs- und Messehallen, mit einem Kino und dem Beatrix-Theater. Güter liefern hier immer noch ganz konventionell Diesellaster, Messegäste gelangen mit Verbrenner-Taxen zu den Hotels. Aber der Umbruch ist eingeleitet.
Auf den Dächern der Messehallen installieren Handwerker derzeit Fotovoltaik-Panele. Mit der Sonnenenergie, die sie einfangen, sollen schon bald Ladesäulen für Elektroautos gefüttert werden. Aktuell gibt es 433 Ladesäulen im Stadtgebiet, 2020 sollen es 1000 sein. Denn dann werden schätzungsweise 10.000 Stromer über die Straßen rollen. Schon heute fallen dem Besucher mehr Elektroautos im Stadtbild auf als in vergleichbar großen Städten in Deutschland.
Es sind vor allem Fahrzeuge vom Typ Renault Zoe. Einige der Kleinwagen tragen den Schriftzug „We drive solar“. Der Solarstrom wird heute auf den Dächern im Stadtteil Lombok gewonnen, einem früheren Arbeiterviertel westlich des Bahnhofs – heute das multikulturelle Herz Utrechts. Unweit der Mühle de Ster hat Robin Berg sein Büro. Er ist Gründer der Carsharing-Flotte von „We drive solar“ und betreibt mit Lomboxnet zudem einen lokalen Internetprovider.
Berg ließ vor ein paar Jahren im Stadtteil Glasfaserkabel für schnelles Internet und bei der Gelegenheit hat er auch gleich Stromkabel in die Erde legen lassen. Vor seiner Bürotür steht eine Ladesäule seiner Firma mit einem reservierten Stellplatz.
Privatleute werden Stromhändler
„Wer bei uns mitmacht, hat immer einen Parkplatz“, sagt Berg mit breitem Grinsen. Bei der Parkplatznot im Viertel ist das ein gutes Argument. Das günstigste Paket kostet 89 Euro im Monat samt 210 Freikilometern mit der Zoe.
Die 150 Elektroautos machen aber nicht nur Menschen mobil – sie sollen auch dabei helfen, das Stromnetz zu stabilisieren: Die nächste Fahrzeuggeneration, die 2020 auf den Markt kommt, unterstützt bidirektionales Laden. Der Strom kann dann nicht nur die Batterie befüllen, sondern auch zurück ins Netz fließen, wenn das Auto an einer Ladesäule parkt.
Die Technologie Vehicle-to-Grid (V2G) brachte den Niederländer Ruben Benders auf die Idee für sein Start-up Jedlix. Benannt ist es nach Ányos Jedlik, der 1829 den Gleichstrommotor erfand. Das Unternehmen baut keine Motoren, sondern bringt Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht. Jedlix kooperiert in Utrecht mit Renault und hat eine App für das Smartphone entwickelt, das jedes Elektroauto automatisch vom Netz nimmt, wenn in den frühen Abendstunden in der Stadt der Stromverbrauch steigt, weil viele Menschen heimkommen, kochen oder den Fernseher und Waschmaschine einschalten. Zu später Stunde, wenn die meisten Menschen schlafen und wieder mehr Strom verfügbar ist, geht das Auto zurück ans Netz.
Den Service lässt sich Jedlix von den Stromerzeugern bezahlen – und gibt einen Teil der Einnahmen wiederum an seine Kunden weiter. Die Besitzer einer Zoe können so bis zu fünf Euro pro Monat bei der Batteriemiete von 69 Euro sparen. Das Geschäftsmodell von Jedlix hat nur einen Haken: Das bidirektionale Laden beherrschen derzeit nur wenige Elektroautos. Das Start-up arbeitet deshalb an vergleichbaren Lösungen für Elektroflitzer der Hersteller BMW und Tesla.
Robin Berg kooperiert aber nicht nur mit der Autoindustrie, sondern auch mit der Wohnungswirtschaft von Utrecht. Die Stadt, wir haben es von der Stadträtin van Hooijdonk gehört, will wachsen. Doch Platz ist in den Niederlanden ein knappes Gut. An Carsharing führt deshalb eigentlich kein Weg vorbei.
Immobilienentwickler Syntrus Achmea hat im Stadtteil Oudennoord ein ehemaliges Bürogebäude renoviert und in 70 Wohnungen aufgeteilt. 115 Solarmodule auf dem Dach erzeugen seitdem Strom. Damit werden drei Zoes von „We drive solar“ geladen, die sich die Bewohner des Hauses teilen. Und das ist erst der Anfang. Syntrus Achmea plant 1000 weitere Appartements nach dem selben Prinzip. Vor allem kleine, günstige Wohnungen sind in Utrecht gefragt, denn fast ein Viertel der Einwohner sind Studenten. Die jungen Leute sind ein wichtiger Baustein in van Hooijdonks Wachstumsplan: Sie hofft, dass sie nach Abschluss des Studiums in Utrecht bleiben, gut bezahlten Berufen nachgehen und Steuern zahlen.
Ein Hase signalisiert: Grüne Welle
Dazu braucht es allerdings ein gut ausgebautes Mobilitätsangebot – das idealerweise ohne Privatautos auskommt. Die Stadt investiert deshalb kräftig in den Öffentlichen Nahverkehr und dessen Elektrifizierung. Der Verkehrsbetrieb Qbuzz setzt bereits zehn Elektrobusse auf zwei Linien ein. Das Unternehmen hat auch einen erfolgreichen Testlauf zum kabellosen Laden an Haltestellen absolviert. An der Bahnhofsstation muss der Busfahrer exakt auf einer Markierung zum Stehen kommen, dann fließt der Strom per Induktion in die Batterien im Fahrzeugboden. Die kurzen Stopps reichen aus, um genügend Energie für die gesamte Fahrstrecke zu laden. Damit tragen die Buslinien in der Innenstadt ihren Teil zum Klimaschutz bei.
Pendler Keuning steigt trotzdem nur ungern in einen Bus. Er radelt lieber. Hat er Glück, wird bald die Infosäule Flo auf seiner Route verfügbar sein: Die Ideenschmiede Spring‧lab testet die digitale Anzeige derzeit an einem der Radwege. Flo (gesprochen wie das englische flow) zeigt 120 Meter vor einer Ampel an, wie schnell ein Radfahrer fahren muss, um bei Grün die nächste Kreuzung überqueren zu können. Ein Hase signalisiert, dass er besser kräftig in die Pedale tritt, eine Schildkröte fordert zum gemächlichen Fahren auf. Utrecht meint es eben ernst mit der freien Fahrt für freie Radler.