Selbst einer Silke Bagschik ist die abrupte Wende etwas unheimlich: „Vielleicht übertreiben wir gerade etwas“, räumt die Managerin ein, die bei Volkswagen den Vertrieb und das Marketing der Baureihe e-Mobility leitet, also für die Vermarktung der neuen ID.-Familie verantwortlich ist. Gestern noch wurde in Wolfsburg der Dieselmotor gefeiert – nun konzentriert Volkswagen all seine Anstrengungen darauf, der Elektromobilität zum Durchbruch zu verhelfen.
Bis 2023 will die Marke neun Milliarden Euro in die Zukunftstechnologie investieren, in die neue Elektro-Plattform MEB und eine Flotte neuer Elektroautos, die auf der Basis entstehen. Und nach jeder Händlertagung, erzählt Bagschik bei einem Presseworkshop in der Gläsernen Manufaktur in Dresden, werden die Planzahlen weiter nach oben geschraubt. War ursprünglich nur geplant, rund zehn Millionen Autos auf der MEB-Plattform zu bauen und weltweit abzusetzen, werden nun 15 Millionen Stromer angepeilt. Und waren ursprünglich nur vier Modelle mit unterschiedlichen Aufbauten, Radständen und Zielgruppen geplant, arbeiten die Designer und Ingenieure in Wolfsburg und Braunschweig inzwischen an doppelt so vielen Varianten des ID..
ID Neo wird ID.3 heißen
Den Anfang macht das knubbelige Kompaktmodell ID.3, ehemals ID Neo genannt, das mit Norm-Reichweiten zwischen 330 und 550 Kilometern und einem Preis um die 24.000 Euro starten soll. EDISON konnte schon eine Runde in dem Prototyp drehen. Nach der Weltpremiere am 9. September werden die ersten Modelle voraussichtlich ab März nächsten Jahres an Kunden ausgeliefert.
So lief die Abnahmefahrt im VW ID.:
Doch schon ein gutes halbes Jahr später, also im September 2020, folgt mit dem ID. Crozz im Tiguan-Format der erste elektrische SUV der Wolfsburger, von dem es Mitte 2021 noch eine schlanke coupéhafte Version geben wird. Und 2022 schließt sich aus dem VW-Werk Hannover mit dem ID. Buzz der langersehnte elektrische Nachfolger des kultigen Bullis an.
Weitere spezielle Varianten für den nordamerikanischen und chinesischen Markt sind in Vorbereitung. „Hier startet etwas Größeres“, ahnt Vertriebsmanagerin Bagschik, die bei der Markteinführung des ersten Modells wegen der großen Nachfrage „anfangs erhebliche Lieferprobleme“ erwartet.
Neues Erfolgsmodell: öko
Und die Größe bemisst sich nicht allein nach Stückzahlen oder Modellreihen. „Das wäre das Erfolgsmodell von gestern“, sagt Baureihenchef Christian Senger. Früher habe man mit Stückzahlen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen versucht – unter Martin Winterkorn wurde noch das Ziel ausgerufen, der größte Autobauer der Welt werden zu wollen.
In Zukunft werde der Umweltschutz das zentrale Thema im Wettbewerb und laute das doppeldeutige Motto: „Erobere das Ökosystem“. Denn einerseits reicht ein Auto alleine nicht. Es braucht die richtige Software im und außerhalb des Fahrzeugs, eine Ladeinfrastruktur und weitere Mobilitätsservices.
Und ökologisch ist es auch: Bei der Energiewende auf der Straße gehe es nicht einfach nur um den Austausch des Verbrennungsmotors durch einen Elektroantrieb. „Es geht nicht um das Fahrzeug, sondern um das gesamte System“, darum, den Anteil des Straßenverkehrs an den Emissionen des Klimagases CO2 signifikant zu reduzieren.
ID. als klimaneutrales Auto
Das große Ziel sei es, den Volkswagen ID. als weltweit erstes komplett klimaneutrales Elektroauto auf den Markt zu bringen und an den Kunden zu übergeben. Ja, auch Volkswagen werde noch eine Weile Autos anbieten, die von einem Verbrennungsmotor angetrieben werden. Aber, so Senger: „Elektromobilität wird das neue Normal“.
Damit das gelingt und auch um manchen Umweltschützern und Kritikern der Antriebstechnik aus dem Lager der Ewiggestrigen den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat Volkswagen damit begonnen, die gesamte Wertschöpfungskette unter Klimaschutzaspekten zu optimieren. Die Fertigung von Batterien oder Stahlteilen bei seinen Zulieferern, die Energiegewinnung und den Energieeinsatz in den VW-eigenen Lackier- und Montagewerken ebenso wie den Einkauf.
An vielen Stellschrauben werde derzeit gleichzeitig gedreht, berichtete in Dresden Ralf Pfitzner, der im VW-Konzern den Bereich Nachhaltigkeit leitet. Volkswagen, räumt er ein, sei in der Vergangenheit ein Teil des Problems gewesen. „Wir wollen nun ein Teil der Lösung sein. Heute noch belaste das Auto, wenn man den gesamten Lebenszyklus betrachte, das Klima mit knapp 44 Tonnen CO2. Lediglich 29 Tonnen entfallen dabei auf den Fahrbetrieb und den Verbrauch an Kraftstoff. Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, sei es erforderlich, diesen Wert um 30 Prozent zu reduzieren.
Umstellung auf Ökostrom
Wie? Beispielsweise durch die Umstellung des Kraftwerks in Wolfsburg von Kohle auf Erdgas oder durch die Umstellung von Erdgas auf Grünstrom in anderen Werken. Die Gläserne Manufaktur in Dresden hat diese Dekarbonisierung schon hinter sich.
Im Werk Zwickau – in dem der VW ID. produziert wird – ist der Prozess im vollen Gange. Seit 2010 ist der Klima-Rucksack hier bereits um 66 Prozent kleiner geworden, etwa durch eine eigene Stromgewinnung mit Hilfe von Photovoltaik-Anlagen und Windrädern.
Die CO2-Mengen, die am Ende des Prozesses noch übrig bleiben, sollen dann kompensiert werden, etwas durch die finanzielle Unterstützung von Klimaschutzprojekten oder die Aufforstung von Regenwäldern in Asien, Afrika oder in Brasilien.
Von wegen Brückentechnik
Nach den gleichen Maßstäben soll auch die Herstellung der Batterien und Batteriezellen bei den Zulieferern optimiert werden. „Wir werden dafür sorgen“, kündigte Senger im Interview mit EDISON an, „dass die Belastungen in der Herstellung deutlich sinken werden, etwa durch den konsequenten Einsatz von Grünstrom in der Batteriefertigung. Ich verspreche: Wir werden die Batterie sauber bekommen.“
In den eigenen Werken hat Volkswagen die Energieversorgung selbst in der Hand. Wie sieht es aber bei externen Lieferanten aus? Sengers Versprechen soll auch für die Batteriefabrik des koreanischen VW-Zulieferers LG Chem in Polen gelten: Wie am Rande der Veranstaltung zu erfahren war, hat sich Thomas Ulbrich, im Volkswagen-Markenvorstand für das Ressort Elektromobilität verantwortlich, vehement dafür eingesetzt, dass das neue Werk am Rande des schlesischen Kohlereviers ausschließlich mit Grünstrom betrieben wird.
Wasserstoff mit zu hohem Energiebedarf
Aber ist der batterieelektrische Antrieb nicht nur eine Übergangslösung, gehört die Zukunft nicht eigentlich der Brennstoffzelle? Auch in dem Punkt haben sich die VW-Strategen inzwischen festgelegt: nein. „Das BEV (Battery-Electric Vehicle, Anmerkung der Redaktion) ist unter Umweltgesichtspunkten die effizienteste Antriebsform“, konstatierte Martin Roemheld, der die E-Mobility-Services bei Volkswagen leitet.
Mit einem Bedarf von 494 Wattstunden pro Kilometer sei ein Brennstoffzellenauto mehr als doppelt so energiehungrig wie ein Elektroauto, das den Fahrstrom aus einer Batterie beziehe (184 Wattstunden pro Kilometer).
Und der einst so vielgefeierte Diesel? Da falle die Bilanz noch schlechter aus, rechnet der Ingenieur vor: Mit dem Energiegehalt von sechs Litern Sprit oder 60 Kilowattstunden komme ein Diesel rund 100 Kilometer, ein Elektroauto aber rund 400 Kilometer weit.
Das ganze Gespräch mit dem ID.-Baureihenchef Christian Senger können Sie hier lesen.