Es gibt tatsächlich noch Menschen, die Vorbehalte gegen Elektroautos haben. Die seien langweilig und emotionslos, nur etwas für die Kurzstrecke. Auf Langstrecken gleiche die Suche nach einer freien Ladesäule einem Glücksspiel. Und habe man endlich eine gefunden, dauere es ewig, bis der Akku wieder geladen sein. Diesen und anderen Vorurteilen begegnet immer wieder, wer mit einem Elektroauto durch die Gegend stromert.

Die Skeptiker werden jedoch kleinlaut, wenn sie einmal ein Elektroauto vom Kaliber eines Mercedes EQS 580 4matic erleben dürfen. Und das schon, bevor sie das erste Mal auf dem Beifahrersitz oder im Fond Platz nehmen. Wir hatten das aktuelle Topmodell im Stromer-Portfolio der Stuttgart zwei Wochen im Einsatz – und dürften in der Zeit eine Reihe von „Gusseisernen“ wenn nicht bekehrt, so doch ins Grübeln gebracht haben. Mit seiner Leistung, aber auch mit seiner Reichweite – und vielen kleinen feinen Details.

Lichtspiele am Abend

Lediglich in einem Punkt war es schwierig zu argumentieren: Bei den Anschaffungskosten. Mit einem Basispreis von 139.480 Euro ist ein Mercedes EQS 580 4matic alles andere als ein Einstiegsmodell in die Welt der Elektromobilität. Unser beinahe vollausgestatteter Testwagen kostete inklusive Massagesitze und MBUX-Hyperscreen sogar 164.553,20 Euro. So etwas kann sich eigentlich nur leisten, wer als IntendantIn für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk tätig ist und mit dem Kaufpreis nicht die eigene Geldbörse belasten muss. Selbst den Umweltbonus kann man bei einem solchen Luxusgefährt nicht als Argument anführen – den gibt es aus guten Gründen für Elektroautos dieses Kalibers nicht. Allerdings: Ein vergleichbares Modell mit Hybridantrieb wie der Mercedes S 580 e 4matic ist mit einem Basispreis von 136.588 Euro in der Anschaffung nicht wesentlich preiswerter – dürfte im Unterhalt aber deutlich mehr kosten.

Aber der Reihe nach.

Lichtspieltheater 
Dem Fahrer bieten sich im Mercedes EQS beinahe unendliche Möglichkeiten, den Innenraum nach dem persönlichen Geschmack zu illuminieren. Und auf Wunsch gibt es während der Fahrt zusätzliche "Energizing"-Programme - Emotion pur. Fotos: Rother
Lichtspieltheater
Dem Fahrer bieten sich im Mercedes EQS beinahe unendliche Möglichkeiten, den Innenraum nach dem persönlichen Geschmack zu illuminieren. Und auf Wunsch gibt es während der Fahrt zusätzliche „Energizing“-Programme – Emotion pur. Fotos: Rother

Den ersten kleinen Volksauflauf gab es kurz nach der Anlieferung des Fahrzeugs, bei einer ersten kleinen Ausfahrt und bei einem Stopp in einer Wohnsiedlung. Die Abenddämmerung war hereingebrochen und wir probierten gerade die Möglichkeiten zur Individualisierung des Innenraums aus. Die Möglichkeiten dazu sind schier endlos, auch bei der Farbgestaltung. Das Ergebnis war ein Lichtspieltheater der besonderen Art, das die Passanten so magisch anzog wie das Licht die Motten.

500 Kilometer Reichweite sind locker drin

Ja, mehr Show als der Mercedes EQS in Topausstattung kann kaum ein anderes Auto. Den Sitz stellt der Fahrer nicht einfach so ein. Wer die perfekte Position finden will, kann dies getrost dem Auto überlassen. Im Bordcomputer muss dazu nur die Körpergröße eingegeben werden – den Rest übernimmt das Kamerasystem und die elektrische Sitz- und Lenkradverstellung. Das elektrische Wundermobil bietet Lösungen an für Probleme, die andere Autohersteller noch gar nicht erkannt haben. Manche wirken überdreht wie das Angebot, durch Licht- und Tonspiele Energie zu erzeugen. Nicht um die Reichweite des Fahrzeugs zu vergrößern, sondern um den Fahrer wieder fit zu machen – für die nächsten 200 oder 300 Autobahn-Kilometer.

Alles vom Feinsten 
Andere Elektroauto glänzen inzwischen mit noch höheren Ladeleistungen. Dafür fließt beim EQS der Strom sehr lange zügig.
Alles vom Feinsten
Andere Elektroauto glänzen inzwischen mit noch höheren Ladeleistungen. Dafür fließt beim EQS der Strom sehr lange zügig.

Denn der EQS kommt, wenn man die Tempolimits beachtet und die Kräfte des 385 kW (523 PS) starken Elektroantriebs vernünftig einsetzt, mit einer Ladung seine 107,8 kWh großen Akkus locker um die 500 Kilometer weit. Reichweitenangst braucht hier niemand zu haben, zumal der Bordcomputer per „Electric Intelligence“ nach Eingabe des Fahrtziels auch die Ladepunkte entlang der Strecke sowie die Ladezeit einkalkuliert. Für unser Gefühl allerdings manchmal mit etwas zu großen Sicherheitsreserven: Bei einer Fahrt von Köln nach München wollte uns der Navigationsrechner schon nach gut 200 Kilometern und bei einem Ladestand von noch 56 Prozent an die Ionity-Säule am Rastplatz Weiskirchen lotsen.

Bordcomputer rät zu kurzen Etappen

Wir verzichteten dankend und stromerten lieber weiter bis nach Geiselwind, um dort bei einem deutlich niedrigeren Ladestand wesentlich schneller frischen Strom zu laden – mit bis zu 210 statt nur etwa um die 150 kW. Auf der Rückfahrt am Tag darauf, zeigte sich der Bordcomputer erneut sehr hasenfüßig und plante lieber mehrere kurze Ladestopps ein statt eines längeren. Irgendwer mag sich dabei etwas gedacht haben. Was, blieb uns allerdings bis zum Testende verschlossen.

Hinterradlenkung, kein Achsschaden 
Bis zu 4,5 Grad (gegen Aufpreis auch um 10 Grad) schlagen die Hinterräder des Mercedes EQS ein, um den Wendekreis der 5,21 Meter langen Luxuslimousine zu verkleinern. Das macht das Elektroauto auch in der Stadt sehr wendig.
Hinterradlenkung, kein Achsschaden
Bis zu 4,5 Grad (gegen Aufpreis auch um 10 Grad) schlagen die Hinterräder des Mercedes EQS ein, um den Wendekreis der 5,21 Meter langen Luxuslimousine zu verkleinern. Das macht das Elektroauto auch in der Stadt sehr wendig.

Spaß hatten wir trotzdem. Und das jede Menge. Nicht nur an den Ladestationen, wo der Mercedes EQS den Strom recht zügig und selbst bei Ladeständen um die 80 Prozent noch mit Leistungen um die 100 kW aufnahm – und manchmal sogar bei der Annäherung automatisch die Ladeklappe öffnete. Sondern auch und vor allem unterwegs, sei es auf der Autobahn, auf Landstraße oder auch in der Stadt: Trotz einer Länge von fünf Metern erwies sich der EQS als sehr wendig. Der Mercedes kann sich dank der Hinterradlenkung zwar nicht wie eine Krabbe seitwärts bewegen. Aber durch den Einschlag um bis zu 4,5 Grad genügen der Limousine weniger als elf Meter, um in einer Kreuzung zu wenden. Das kann selbst ein VW Golf neuester Bauart nicht besser.

Kuschelkissen auch für den Fahrer

Vollends zum Traumwagen wird der Mercedes EQS 580 4matic aber auf langen Autobahnstrecken, aufgrund des hohen Federungskomforts und eines auch bei Tempo 210 (ja, auch das haben wir uns streckenweise gegönnt) erstaunlich niedrigen Geräuschpegels. Auch die Kuschelkissen an den Kopfstützen tragen dazu bei, auf der Fahrerseite allerdings in kritischer Weise: Bei Sphärenklängen aus den Lautsprecherboxen ist die Verlockung groß, ein wenig zu schlummern. Autonomes Fahrer auf Level beherrschte unser Testwagen noch nicht. Doch der „Drive Pilot“ ist mittlerweile bestellbar – dann könnte man im Stopp & Go-Verkehr bis Tempo 60 immerhin für ein paar Sekunden die Augen schließen.

Großer Auftritt 
Vor der ehemaligen Staatsresidenz auf dem Petersberg bei Bonn macht der Mercedes EQS eine ausgesprochen gute Figur. Auf Elektroautos ist das Steigenberger Grandhotel allerdings noch schlecht vorbereitet. Ladesäule auf dem Vorplatz? Fehlanzeige.
Großer Auftritt
Vor der ehemaligen Staatsresidenz auf dem Petersberg bei Bonn macht der Mercedes EQS eine ausgesprochen gute Figur. Auf Elektroautos ist das Steigenberger Grandhotel allerdings noch schlecht vorbereitet. Ladesäule auf dem Vorplatz? Fehlanzeige.

Wer entspannt reisen will, für den ist der Mercedes EQS 580 die perfekte Wahl. Platz bietet der Innenraum mehr als reichlich, nicht nur in der ersten Reihe. Auch hinten kommt trotz der coupéhaften Dachlinie keine Platzangst auf. Großgewachsene Menschen sollten beim Einstiegen allerdings vorsichtshalber den Kopf einziehen. Und auch der Kofferraum ist mehr als ausreichend dimensioniert. Für das Ladekabel gibt es unter dem Ladeboden zudem ein extra Abladefach – da fliegt also nichts durch die Gegend.

Überraschend niedriger Verbrauch

Erfreulich ist auch der – für ein Fahrzeug von knapp 2,6 Tonnen Leergewicht – erstaunlich niedrige Energieverbrauch. Ok, die Normverbräuche von 19,5 kWh/100 km im Drittelmix und von 17,6 kWh/100 km im Stadtverkehr haben wir zwar nicht erreicht. Aber ein Schnitt von 24,2 kWh/100 km nach über 2300 Kilometern im EQS bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 61 km/h sind beileibe kein schlechter Wert. Der niedrige cw-Wert von 0,20 trägt dazu ebenso bei wie ein intelligentes, situationsoptimiertes System zur Rückgewinnung von Bremsenergie – auch in dem Punkt ist der EQS manchmal schlauer als der Fahrer. Denn er weiß, wann es sich lohnt, zu beschleunigen – oder wenn man den Fuß besser vom Fahrpedal nimmt.

Kein Zweifel: Der Mercedes EQS 580 4matic zählt zu den smartesten und auch emotionalsten Elektroautos, die derzeit zu haben sind. Leider auch zu den luxuriösesten und teuersten. Wir durften immerhin ein wenig träumen.

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