Das Leben ist zurück in Camar. 83 Einwohner zählte das kleine Dorf auf 2700 Metern Höhe noch vor drei Jahren, mittlerweile sind es wieder mehr als 130. Der Bau eines Kindergartens und einer Grundschule, vor allem aber die Errichtung eines Solarparks samt Stromspeicher-Anlage hat die Landflucht gestoppt und viele der Atacameños, wie sich die Ureinwohner der Atacama nennen, aus San Pedro oder auch Santiago de Chile zurück in ihre Heimat gelockt. Camar verfügt nun über eine Straßenbeleuchtung, in den zahlreichen Neubauten entlang der Dorfstraße brummen Kühlschränke und Klimaanlagen. Und das Schönste ist:Der Strom kostet nichts.
Dorfbewohnerin Theresa strahlt über das ganze Gesicht. Wir treffen sie vor dem kleinen Kraftwerk am Ortsausgang, wo sich eine steinige, ungeteerte Straße weiter hinaufwindet, dem schneebedeckten Gipfel des Vulcan Lascar entgegen. Wir stehen an einem von allerlei Büschen umfassten Betonbecken, in das kaltes Bergwasser plätschert. Auch an Wasser scheint es den Bewohnern von Camar also nicht zu mangeln.
Trotzdem ist Camar nach europäischen Maßstäben alles andere als ein Paradies. Der Boden ist staubtrocken und steinhart, im Jahr fallen im Schnitt nur 30 Millimeter Regen. Und die Höhenluft ist so dünn wie die Schicht des Wohlstands, die sich über das Dorf gelegt hat – dank des Lithiumabbaus unten im Tal.
Nachfrage nach Lithium explodiert
In der 60 Kilometer entfernten Hochebene des Salar de Atacama pumpt die Sociedad Química y Minera (SQM) seit inzwischen über 25 Jahren aus, je nach Bohrstelle, zwei bis 150 Metern Tiefe Sole nach oben. Die Lösung, die achtmal so viel Salz enthält wie Meerwasser, wird in fußballfeldgroße Extraktionsbecken geleitet und anschließend immer wieder umgepumpt, von einem Becken ins nächste. Über ein Jahr lang, bis unter der sengenden Sonne durch Verdunstung und Ausfällung von Kalisalzen (die unter anderem in der Düngemittelindustrie Verwendung finden) von der ursprünglich blauen Lösung nur noch eine dunkelgelbe schmierige Brühe übrig geblieben ist – Lithiumchlorid mit einer Konzentration von etwa sechs Prozent.
Mit Kesselwagen wird die Lösung zur weiteren Verarbeitung in eine Fabrik nahe der Küstenstadt Antofagasta transportiert, wo sie zu hochreinem Lithiumcarbonat und Lithiumhydroxid verarbeitet wird –dem neuzeitlichen „weißen Gold“, ohne dass kein Lithium-Ionen-Akku funktionieren und kein Elektroauto fahren würde.
Es ist ein Riesengeschäft, da die weltweite Nachfrage in den vergangenen Jahren durch die Elektromobilität geradezu explodiert ist. Denn in einem Akku mit einer Speicherkapazität von 50 kWh stecken immerhin rund neun Kilogramm Lithium. Und die Akkus vieler E-Autos sind meist größer und die Stromer werden immer zahlreicher. Mit der Folge, dass zwischen der Produktion von und der Nachfrage nach Lithiumcarbonat eine immer größere Lücke klafft. Für das laufende Jahr rechnen die Experten von McKinsey & Company mit einer Produktion von etwa 438.000 Tonnen Lithiumcarbonat-Equivalent (LCE) – und einem Bedarf von 689.000 Tonnen. Und in den kommenden Jahren wird sich die Nachfrage nach dem Rohstoff weiter dynamisch entwickeln.
Bei Lithium sorgen Lieferengpässe
Michael Schmidt von der Deutschen Rohstoffagentur (DERA), der uns auf der Reise durch den Norden Chiles zusammen mit Vertreterinnen der deutschen Botschaft und der deutsch-chilenischen Handelskammer ein Stückweit begleitete, erwartet deshalb massive Versorgungsengpässe speziell in Europa, dem aktuellen Hotspot der Elektromobilität. Umfangreiche Ausführungen dazu wird Schmidt in der neuen Ausgabe seiner „Rohstoffrisikobewertung Lithium“ machen. Sie soll dieser Tage von der DERA veröffentlicht und anschließend auf einem Industrieworkshop mit Vertretern der Autoindustrie diskutiert werden.
Auch auf die bedenkliche Entwicklung der Rohstoffpreise geht der Bericht ausführlich ein: Auf dem chinesischen Spotmarkt kostet das Kilogramm Lithiumcarbonat aktuell umgerechnet um die 65 Euro – etwa sechzehnmal so viel wie noch Ende 2020. Lithium-Lieferant SQM, mit einer Jahresproduktion von 100 000 Tonnen LCE in Chile einer der größten Anbieter weltweit, hat dabei ganz ordentlich mitverdient: Im vergangenen Jahr verdoppelte sich der Gewinn des Konzerns vor Steuern und Abschreibungen auf 1,186 Milliarden Dollar. 40 Prozent davon steuerte das Lithium-Geschäft bei. Und im ersten Quartal dieses Jahres machte SQM allein mit Lithium Gewinne von 800 Millionen Dollar.
Bevölkerung profitiert von Lithium-Produktion
Ein Teil davon fließt in soziale Projekte wie das in Camar, mit denen die Lebensbedingungen in den Gemeinden rund um den im Salar de Atacama verbessert werden sollen. Solar- und Wasseraufbereitungsanlagen entstehen, Schulen und Kindergärten. Und Agraringenieure helfen den Bauern in der Region, den Boden nach neuesten Methoden zu bearbeiten, auf dass darauf nicht nur Knoblauch und Alfalfa wächst, sondern auch Wein angebaut werden kann – trotz des Wassermangels und der angeblichen Absenkung des Grundwasserspiegels durch die Lithium-Förderung im ferneren Nukleus des Salar.
Bei den Verhandlungen mit dem staatlichen Verband zur Produktionsförderung, der im Salar die Schürfrechte erteilt, hat sich das Unternehmen verpflichtet, bis zum (vorläufigen) Auslaufen der Konzession im Jahr 2030 insgesamt 717 Millionen Dollar an die indigenen Atacameño-Gemeinschaften sowie die Regionalregierung von Antofagasta zu zahlen. 4,2 Milliarden Dollar sind im gleichen Zeitraum für Pachtzahlungen veranschlagt. Ähnliche Summen bringt der US-Konzern Albemerle auf, der zweite große Lithium-Produzent im Salar. So viel zur These mancher Nichtregierungs-Organisationen aus Europa, wonach die Rohstoffkonzerne mit ihren Aktivitäten die Lebensweise der indigenen Bevölkerung sowie die Umwelt zerstören – und sich dabei die Taschen vollstopfen.
Welche Rechte hat die Natur?
Pamela Condoni gerät in Wallung, als sie bei unserem Besuch in Rio Grande de Atacama, einem anderen, rund 50 Einwohner zählenden Dorf auf 3221 Metern Höhe, von der Kritik in Europa am Lithiumabbau im Salar hört: „Was erzählen die da?“
Die resolute Mittvierzigerin ist nicht nur Mitglied des Dorfrats, sondern auch Vizepräsidentin der „Asociación Indígena Consejo de Pueblos Atacameños“, in dem sich 18 indigene Gemeinschaften aus der Region zusammengeschlossen haben, um ihre Interessen zu wahren – gegen die Rohstoffkonzerne, aber auch gegen die Regierung in der Hauptstadt Santiago, von der sich die Landbevölkerung sträflich vernachlässigt sieht.
Dort wird in einer verfassungsgebenden Versammlung gerade unter anderem heftig diskutiert, ob die Natur Chiles Rechte haben sollte, die Ausbeutung der Erde gestoppt gehört und Wasser zum öffentlichen Gut erklärt werden sollte. Und was Wasser überhaupt ist. Zählt die Sole unter der Oberfläche des Salzsees in der Atacama auch dazu? Oder ist Wasser per Definition nur auf Trink- und Grundwasser beschränkt?
Im zweiten Teil der Reportage erfahren Sie, wie der Klimawandel die Lithium-Produktion in Chile beeinflusst.