Elektroautos sind für Reifenhersteller eine besondere Herausforderung. Nicht nur, weil die Stromer noch deutlich schwerer sind als konventionell angetriebene Fahrzeuge und mit einem höheren Drehmoment beschleunigen. Der Rollwiderstand spielt hier zudem eine besondere Rolle, da dieser mit über die Reichweite eines E-Autos entscheidet. Und natürlich darf das Streben nach Reichweite nicht die übrigen Qualitäten eines Reifens – Bremswege, Spurhalten auch bei nasser Fahrbahn, Rollgeräusche und Verschleiß – beeinträchtigen.
Alle großen Hersteller haben deshalb inzwischen spezielle Reifen für Elektroautos und Fahrzeuge mit Hybridantrieb auf den Markt gebracht, von Bridgestone und Continental über Michelin und Pirelli bis hin zu Sailun. Sailun? So heißt eine aufstrebende Reifenmarke aus China, die erst vor 20 Jahren gegründet wurde, im Ranking der weltgrößten Reifenproduzenten mit jährlich über 30 Millionen Reifen für Pkw, Lkw und Baumaschinen aber bereits Position 17 belegt. In ihrem Heimatland rüstet sie bereits Neuwagen von BYD mit ihren Pneus aus. Mit der Neuentwicklung Sailun Atrezzo Erange möchte Sailun nun auch in Europa Kunden gewinnen – für die Erstausrüstung von Elektroautos, aber auch im Ersatzgeschäft. Auf der Fachmesse „The Tire Cologne“ sprachen wir mit Sailun-Chairwoman Yan Hua Liu über Technologie-Innovationen, neue Produktionsverfahren – und weitere Produkte jenseits von Reifen.
Frau Liu, Sailun hat gerade die neue Reifengeneration Sailun Atrezzo Erange speziell für Elektroautos vorgestellt. Was macht den Reifen so besonders?
Für uns ist Technologie-Innovation der Schlüssel. Sailun entwickelt nicht nur Reifen, sondern auch die Mixtur und die Produktionsanlagen. Wir sind kein reiner Reifenhersteller, sondern ein Technologie-Unternehmen, das ständig an einer optimalen Rezeptur und die Umsetzung in neue Produkte arbeitet. Sie müssen wissen: Unser Gründer Yuan Zhongxue war in den 1990er-Jahren Professor und Forscher für Kautschukwissenschaften und industrielle Entwicklung an der QUST (Qingdao University of Science and Technology). Er war verantwortlich für die Umsetzung von Bildungsforschung in anwendbare Geschäftslösungen. Bei der neuen Reifengeneration ist es uns gelungen, durch die neue EcoPoint3-Technologie den Reifen insgesamt in allen Bereichen zu verbessern.
Was bedeutet die EcoPoint3 Technologie?
Bei unserer EcoPoint3-Technologie handelt es sich um eine Flüssigkeitsmischung, die sich im Vergleich zu herkömmlichen Produktionsmitteln besser vermischen lässt. Statt Füllstoffe energieintensiv mechanisch in den Kautschuk zu mischen, verteilt sich der flüssige Füllstoff gleichmäßiger und genauer. In Kombination mit dem eingesetzten Haftvermittler erreichen wir eine besonders starke Verbindung der Kautschukpolymere. Das sorgt für mehr Haltbarkeit im Reifen, dadurch für eine bessere Performance, weniger Abrieb, besseren Rollwiderstand und gute Haftung. Die Reifen mit EcoPoint3 sind haltbarer, langlebiger und energieeffizienter als Reifen mit herkömmlicher Mischung.
Und in der Produktion?
Auch da bietet die neue Technologie Vorteile. Flüssige Werkstoffe lassen sich effizienter verarbeiten, der Energieverbrauch reduziert sich um bis zu 36 Prozent. Anderseits kommt Silica statt Ruß zum Einsatz. Das reduziert den CO2-Fußabdruck weiter. Da wir neben Reifen auch Maschinen für die Reifenproduktion entwickeln, besitzen wir seit über 20 Jahren ein umfassendes Know-how bei der gesamten Wertschöpfungskette der Reifenentwicklung und Reifenproduktion. Sailun integriert Produktion, Forschung und Produktsimulation in die Entwicklung neuer Produkte in einem Prozess an einem Ort. Das ist einzigartig.
Wie entwickeln Sie Ihre Reifen weiter?
Es geht nicht nur um die Reifen an sich, sondern um deren Gummimischung. Und da sind wir sehr gut aufgestellt: Sailun ist als Technologie- und Testplattform für Reifen gegründet worden, um neue Gummimischungen zu entwickeln. Unsere Mitarbeiter forschen seitdem gemeinsam mit der Qingdao University of Science and Technology an der Verbesserung. Früher wussten wir nicht, wer unsere Kunden waren, weil wir die Reifen an die Händler schickten. Jetzt können wir sie besser identifizieren, analysieren, die strategische Karte des Landes studieren. Wie ist das Wetter, wie ist die Straße? Dann entwerfen wir die passenden Produkte für sie. Dazu helfen uns unsere Kunden, unsere Produkte weiter zu verbessern. Sie geben uns wertvolles Feedback, um die Reifen weiterzuentwickeln. So werden wir bald die Reifen an den jeweiligen Markt anpassen können.
Wie ist das gemeint?6
Das Temperatur-Gefälle in Europa ist sehr groß. Einen Reifen für ganz Europa herzustellen, ist immer ein Kompromiss. Wir können mit der EcoPoint3-Technologie nun gezielt in sehr heißen Regionen wie Spanien eine härtere Mischung zusammenstellen als im kühleren Norwegen. Ganz gleich, ob für Pkw oder Lkw. In Zukunft können wir verschiedene Produkte für verschiedene Märkte produzieren.
Wie wollen Sie weiter wachsen?
In den nächsten Monaten führen wir mehr neue Produkte und neue Technologien für unsere europäischen Kunden ein. Dazu wollen wir mehr Außendiensttechniker einstellen, um unser Netzwerk zu stärken. Wichtig ist für uns, dass wir unsere Kunden umfassend betreuen wollen. Aus Kundenbefragungen und Tests wissen wir, dass unsere Reifen mit den bekannten Wettbewerbern mithalten können oder teilweise sogar besser sind – bei deutlich attraktiveren Preisen. Das müssen wir weiter kommunizieren und mit weiteren Produkten untermauern.
Welche Produkte werden das sein?
Wir gehen in alle Bereiche: Pkw, Landwirtschaft, Bergbau, Industrie. Mehr und mehr neue Produkte entstehen, um die Anforderungen der Kunden in den verschiedenen Bereichen zu erfüllen und die Marke weiter bekannt zu machen. Sailun stellt Pkw- und Lkw-Reifen her, dazu kommen noch weitere Marken wie Maxam, Dynamo und RoadX. Dazu produzieren wir für andere namhafte Reifenhersteller auch Reifen.
Wie viele Reifen wollen Sie im Jahr 2024 in Europa produzieren?
Europa ist ein großer Markt, unser Marktanteil ist noch recht gering, aber das Potenzial ist groß. Wir können so viele Reifen produzieren, wie Kunden sie wünschen. Global planen wir mit unseren rund 18.000 Mitarbeitern eine Gesamtkapaziät von 103 Millionen Pkw-Reifen. Dazu kommen rund 26 Millionen Lkw-Reifen und 447.000 Tonnen OTR. Ich glaube an eine großartige Zukunft für Sailun in Europa.
Produzieren Sie ausschließlich in China?
Sailun produziert die Reifen weltweit. Neben den fünf Fabriken in China gibt es noch jeweils eine in Kambodscha und in Vietnam. Dieses Jahr kommt noch je eine weitere Fabrik in Indonesien und Mexiko hinzu. Weitere Standorte weltweit prüfen wir derzeit für unsere globalen Aktivitäten. Unsere Grundlagenforschung findet in China statt, aber unsere Forschungs- und Entwicklungszentren sind in der ganzen Welt verteilt. Lokales Wissen ist für die Reifenentwicklung wichtig. Nur so können wir auf die lokalen Bedürfnisse schnell und hinreichend reagieren.
Viele Ihrer Mitarbeiter tragen hier auf der Messe Sailun-Schuhe. Ein neues Produkt?
Ach, das ist eine lustige Geschichte. Vor acht Jahren bin ich nach Indien gereist. Nach der langen Reise wollte ich mich am Pool im Hotel entspannen, habe meine Badelatschen angezogen und bin prompt auf dem glitschen Boden ausgerutscht. Als ich das meinem Chef Yuan Zhongxue erzählte, ging er der Sache auf den Grund, kaufte in einem Schuhgeschäft verschiedene Schlappen mit verschiedenen Gummimischungen und analysierte sie. Er ist ein unglaublicher Forscher und entwickelte daraufhin eine neue Mischung aus Silica. Daraus entstanden die Turnschuhe. Allerdings vorerst nur, um zu zeigen, was Sailun mit seiner Technologie alles herstellen kann. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt.