Die Raststätte Kemptthal an der Autobahn 1 ist die letzte Gelegenheit für Heimkehrer aus den Bergen oder vom Mittelmehr, ihr Elektroauto auf Schweizer Territorium noch einmal schnell aufzuladen – der nächste High-Power-Charger steht erst 140 Kilometer weiter nördlich am Neckar. Ionity hat den Standort gut gewählt. Es ist Hochsaison und „Bettenwechsel“ in den Feriengebieten Italiens und der Schweiz. Entsprechend lebhaft geht es auf der Raststätte zu. Die Parkplätze für Lastzüge sind fast alle belegt, die Stellplätze für Urlaubsreisende mit Pkw stark nachgefragt.

Die sechs Highpower-Charger von Ionity im kleinen Ladepark vor dem Marché-Restaurant sind allerdings noch alle frei, als eine schwarz-silber lackierte Mercedes-Limousine mit Stuttgarter Kennzeichen um die Ecke biegt und rückwärts vor Säule 1 einparkt. Am Steuer: Britta Seeger. Die 51-jährige Betriebswirtin ist eine von zwei Frauen im achtköpfigen Vorstand der Daimler AG und verantwortlich für den weltweiten Vertrieb von Mercedes-Benz Cars, also den Personenwagen. Unterwegs ist sie an diesem Morgen in einer ganz besonderen Mission und mit einem ganz besonderen Auto, das man hier in Kemptthal zuvor noch nicht gesehen hat.

Hallo Frau Seeger, was fahren Sie denn da? Sie haben an einer Ladestation gestoppt. Es darf also vermutet werden, dass es sich um ein neues Elektroauto handelt.

Seeger: Volltreffer. Das ist unser neuer Mercedes EQS, den wir hier in der Schweiz gerade der Presse vorstellen.

Es ist so etwas wie die elektrische S-Klasse?

Richtig. Es ist ein großartiges Auto, das beim Fahren sehr viel Freude macht.

Das müssen Sie natürlich sagen. Am Heck lese ich die Typenbezeichnung EQS 580 4MATIC. Solche Ziffern standen früher für die Hubraumgröße eines Verbrennungsmotors. Wofür stehen sie heute – die Reichweite?

Nein, für die Antriebskraft. Bei diesem allradgetriebene Wagen haben die beiden Elektromotoren eine Spitzenleistung von 385 kW, also 522 PS. Die Reichweite des EQS 580 beträgt 676 Kilometer nach dem Verbrauchszyklus WLTP, die des heckgetriebenen EQS 450+ sogar 780 Kilometer. Die Er-Fahrung eines Elektroautos mit dieser Reichweite nimmt einem die Ängste, die man heute noch vielfach mit dieser Antriebsform assoziiert…

…die berühmte Reichweitenangst…

Ladetalk am Ionity-Charger kurz hinter der Schweizer Grenze
In 15 Minuten lassen sich hier 300 Kilometer Reichweite nachladen – sofern das Elektroauto ein Mercedes EQS ist. Foto: Mercedes

Ja. Die wird am Steuer dieses Autos niemand erleben. Der Antrieb ist hocheffizient und sehr sparsam und der Akku ist mit über 100 Kilowattstunden Speicherkapazität mehr als ausreichend groß. Und was ich aus Kundensicht für noch wichtiger halte: An einem Schnelllader wie diesem hier kann ich in 15 Minuten 300 Kilometer Reichweite nachladen.

Dann machen wir das doch mal.

Britta Seeger öffnet die Ladeklappe hinten rechts, legt die Kontakte des CCS-Ladesteckers frei und verbindet das Ladekabel mit dem Fahrzeug. Sie hält noch kurz die Ladekarte von me Charge an die Säule – und schon fließt der Strom.

Eine Ladekarte braucht es schon noch?

Der Mercedes EQS hat serienmäßig Plug&Charge. Aber in der Schweiz ist der Service noch nicht freigeschaltet. In Deutschland kann die Ladekarte oder das Smartphone allerdings stecken bleiben. Das ist ein großer Komfortgewinn.

Es gibt Experten, die meinen, Plug&Charge wäre sehr wichtig für die Akzeptanz von Elektroautos.

Ja, aber das ist aus meiner Sicht nur ein Punkt unter vielen. Es geht um Einfachheit, Transparenz –Ease of use. Wichtig ist aber auch, dass an der Ladesäule nur grüner Strom fließt. Denn nur dann ist der Elektroantrieb ökologisch sinnvoll. 

Mercedes EQS Mercedes hat den vollelektrischen Luxusliner EQS vorgestellt. Wir durften mit dem Elektroauto sogar schon eine Runde drehen. Elektroauto

Die Ladesäule hat die Daten des Autos inzwischen ausgelesen: Der Akku des EQS ist noch zu 18 Prozent gefüllt. Und nach wenigen Sekunden steigt die Ladeleistung auf 185 kW. Das ist noch nicht das Maximum, aber direkt nach dem Ladestart ein sehr guter Wert.    

Sie sprachen von der hohen Ladeleistung und der großen Batteriekapazität. Sind das in der Ära der Elektromobilität die neuen Trümpfe beim Autoquartett?

Nicht nur. Trumpf ist die Mischung verschiedener Leistungsdaten. Die Reichweite ist wichtig, denn sie gibt den Fahrern Sicherheit. Auch die Ladeleistung sticht, denn sie verkürzt den Aufenthalt an einer Ladesäule auf längeren Fahrten.

Wichtig ist, dass an der Ladesäule nur grüner Strom fließt. Denn allein dann ist der Elektroantrieb ökologisch sinnvoll“

Dementsprechend kleiner kann man dann die Batterie dimensionieren und damit Gewicht einsparen.

Ja, ich denke, das wird mit den neuen Batterietechnologien, die in den nächsten Jahren kommen, ein Thema werden. Wir werden kleinere Akkugrößen sehen und noch höhere Ladegeschwindigkeiten.

Elon Musk von Tesla hat schon angekündigt, die geplante Plaid-Plus-Version seines Model S mit 840 Kilometern zu streichen, weil die Kundendaten ihm gezeigt hätten, dass niemand so weit mit einem Elektroauto fahre.

Warten wir mal ab, wohin die Entwicklung geht. Unser EQS jedenfalls ist eine echte Reiselimousine, mit der man leicht solche Entfernungen zurücklegen könnte. Der Smart ist eher etwas für die Stadtmobilität: Es gibt ganz unterschiedliche Bewegungsprofile und Marktsegmente. Deshalb wird es in Zukunft auch ein breitgefächertes Angebot an Batteriegrößen geben.

Mercedes-Benz will ab 2030 nur noch rein elektrisch unterwegs sein: „Electric Only“, heißt die neue Strategie, die Vorstandschef Ola Källenius kürzlich verkündet hat. Sind Ihre Kunden dafür schon bereit?

Wenn wir die zurückliegenden sechs Monate betrachten, dann haben wir den Absatz in Europa an Elektrofahrzeugen – reinen Batterieautos und Plug-in-Hybriden – um mehr als 300 Prozent gesteigert. Die Rückmeldungen auf unseren vollelektrischen EQA zum Beispiel sind begeisternd, die Bestellungen ordentlich…

…geht es etwas konkreter?

Gerne: Alleine im ersten Halbjahr 2021 haben wir weltweit über 39.000 rein-elektrische Fahrzeuge an unsere Kunden ausgeliefert, darunter über 19.000 EQA, EQC und EQV-Modelle. In Kürze kommt der EQB, den wir zunächst in China, ab Frühjahr 2022 auch in Europa anbieten werden. Der EQS hat im Sommer Verkaufsfreigabe und auf der IAA werden wir den EQE vorstellen. Und auch mit unseren Plug-in-Hybriden, die inzwischen bis zu 100 Kilometer elektrisch fahren, wird Elektromobilität für immer mehr Menschen im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar.

Der Mercedes EQS hat serienmäßig Plug&Charge
In der Schweiz ist der Service allerdings noch nicht freigeschaltet – da braucht Britta Seeger noch eine Ladekarte. foto: Mercedes

Wobei die Plug-in-Hybride nur eine Übergangslösung für Angsthasen sind.

Ich würde die Käufer nicht Angsthasen nennen. Es sind vielfach Menschen, die einfach nicht zu Hause laden können. Sie wollen aber trotzdem einen Weg in die neue Zeit einschlagen. Mit dem Ausbau der Ladeinfrastruktur, da gebe ich Ihnen recht, wird sich diese Technologie  erübrigen. Deshalb werden die neuen Plattformen, die wir gerade entwickeln, alle für einen reinelektrischen Antrieb ausgelegt sein.

Die Zuwächse, die Sie eben erwähnten, sind beachtlich. Aber sind die nicht auch sehr stark durch die staatliche Förderung getrieben?

Um einen Wandel zu beschleunigen, ist politische Regulatorik hilfreich und eine Unterstützung durch Incentives. Aber selbst in Ländern, wo es keine große finanzielle Unterstützung gibt, schlägt sich die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel positiv auf die Nachfrage nach Fahrzeugen mit alternativen Antrieben nieder. Darüber entsteht eine Art Sogeffekt, weil sich die Menschen über die Technik unterhalten und ihre positiven Erfahrungen teilen.

Das würde Ihren Verkäufern die Arbeit erleichtern. Heute müssen die oft noch große Überzeugungskraft aufwenden, um Menschen zum Umstieg zu bewegen.

Die Themen in den Kundengesprächen verlagern sich – vom Prinzipiellen hin zur Fragestellung: Was muss der Kunde ganzheitlich zum Thema Elektromobilität und Elektrofahrzeug wissen Hat er eine Lademöglichkeit, hat er einen Elektriker zur Hand, um diese zu montieren? Kennt er die Möglichkeit, über Mercedes me Charge Tausende Lademöglichkeiten im öffentlichen Raum zu nutzen? Der Verkäufer soll immer erst die Bedürfnisse des Interessenten erkennen. Die Beratungsgespräche dauern dadurch vielleicht länger, aber der Aufwand lohnt sich.

Im zweiten Teil erfahren Sie, wie Mercedes-Benz sein Angebot an Elektroautos ausbaut – und warum Wasserstoff vorerst kein Thema für den Mercedes-Vertrieb ist.

Artikel teilen

Kommentar absenden

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert