„Es gibt nichts Neues mehr. Alles, was erfunden werden kann, ist erfunden worden!“, meinte 1899 Charles H. Duell, der Hauptbevollmächtigte des U.S. Patentamtes. Es war eine grandiose Fehleinschätzung – die großen Innovationen des 20. Jahrhunderts standen der Menschheit erst noch bevor.
Das gilt auch für die Entwicklung des Fahrrads. Das Sicherheits-Niederrad mit dem bis heute gebräuchlichen Diamantrahmen war 1899 ebenso bereits erfunden wie der Tretkurbelantrieb und der rollwiderstandarme Luftreifen. Aber große Sprünge machte das Zweirad erst 50 Jahre später – mit der Erfindung der Kettenschaltung. Und mit der Elektrifizierung des Antriebs und der Erfindung des E-Bikes kam Ende des 20. Jahrhunderts der nächste große Schub.

Mountainbikes mit elektrischer Trittunterstützung sind Jahren ein Renner im Fahrradhandel. Und die E-Bikes werden immer besser. Foto: pd-f
Und die Entwicklung ist noch längst nicht abgeschlossen, zeigen die Neuheiten der Branche in diesem Frühjahr. Automatikschaltung, Kurvenlicht, Antiblockiersystem – viele Technologien, die wir aus dem Automobilbau kennen, halten nun auch im Fahrrad Einzug. Gleichzeitig wächst die Anzahl der Fahrradgattungen und Spezialanwendungen – mit und ohne elektrische Trittunterstützung. Das Angebot wird immer größer, für jede Altersgruppe und beinahe jeden Transportzweck gibt es mittlerweile maßgeschneiderte Lösungen. Und durch die Digitalisierung wird das Fahrrad immer mehr zu einem Teil des Internets der Dinge.
Kleine Ventil-Revolution
„Es herrscht eine Gleichzeitigkeit von Aufbruch und Gebremstsein. Gravelbike, E‑MTB und Cargobike verändern die Portfolio der Hersteller und des Handels weiter, Nischen bleiben vital und das unmotorisierte Alltagsrad wartet gerade in den Einsteigerklassen auf ein technisches Update und neue optische Frische“, fasst Gunnar Fehlau, der Gründer und Geschäftsführer des Pressedienst Fahrrad (pd-f) aus Göttingen die aktuellen Entwicklungen in der Branche zusammen. Auf einer Tour durch Deutschland stellt er gerade die interessantesten Neuigkeiten vor. Wir haben uns in Köln ein paar davon näher angesehen.

Das innovative Ventilsystem von Schwalbe erleichtert und beschleunigt das Befüllen der Fahrradreifen mit Frischluft. Foto: Schwalbe
Zum Beispiel die innovativen Ventile, die Reifenspezialist Schwalbe aus Reichshof im Sauerland entwickelt hat. Das sogenannte „Clik Valve“ baut nicht nur schlank, sondern soll den Luftdurchfluss um bis zu 50 Prozent erhöhen, was das Aufpumpen deutlich erleichtert. Es braucht dafür keine neuen Schläuche, sondern lediglich einen Ventileinsatz, der ruckzuck montiert ist. Schon für etwa sechs Euro ist man dabei.
Fahrradhelm mit Blinker und Bremslicht
Die Zahl der Menschen, die das Fahrrad nicht nur als „Freizeit- und Freiheitsmobil“ (Fehlau), sondern auch das ganze Jahr über zum Einkaufen oder für die Fahrt zur Arbeit nutzt, wächst stetig. Das Thema Sicherheit wird darüber immer wichtiger. Weil sich Fahrradfahrer hierzulande leider vielerorts ihre Wege immer noch mit Autos und Lastwagen teilen müssen – und die Verkehrsdisziplin auch auf den Radwegen oft zu wünschen übrig lässt. Der neue, knapp 200 Euro teure „Hyp-E“-Helm des Sicherheitsspezialisten Abus aus Wetter an der Ruhr bringt da einen deutlichen Mehrgewinn. Denn er verfügt serienmäßig über ein eingebautes Front- und Hecklicht. Optional signalisiert er über einen zusätzlichen Schalter am Lenker auch Änderungen der Fahrtrichtung. Und über Überzieher an den Bremsgriffen lässt sich auch ein kräftiges Bremslicht am Hinterkopf aktivieren. Die Beispiele zeigen: Schon mit Kleinigkeiten lässt sich viel optimieren.

Scheinwerfer vorne und Bremslicht hinten: Der neue Helm von Abus soll das Fahrradfahren in der Stadt sichere machen. Foto: Abus
Beispielsweise auch mit einem leuchtstarken Fahrscheinwerfer. Der Briq-XL von Busch & Müller aus Meinerzhagen für E-Bikes etwa brennt mit einer Lichtleistung von 8500 Lumen oder bis zu 200 Lux Löcher in die Tag. Der 449 Euro teure Scheinwerfer ist auch der erste weltweit, der über ein digitales Kurvenlicht verfügt. Je nach Lenkeinschlag schalten sich zusätzliche LEDs hinzu, die in den Kurvenverlauf hineinleuchten. Um Blendungen anderer Verkehrsteilnehmer zu verhindern, wird der Lichthorizont dabei stets horizontal gehalten. Die Montage ist einfach, den Strom dafür saugt der Beamer aus der Antriebsbatterie.
Sicher bremsen mit Bosch-ABS
Deutlich aufwendiger ist da schon die Integration eines Antiblockiersystems (ABS) in die Vorderradgabel eines E-Bikes. Bosch eBike Systems hat sich schon 2018 des Themas angenommen und im vergangenen Jahr die zweite Generation des Blockierverhinderers auf den Markt gebracht, in kompakterer Bauweise und schlankerer Optik, aber auch mit verschiedenen Modi für unterschiedliche Einsatzbereiche, von Cargo- über City- bis hin zu Mountainbikes. In diesem Jahr kommen eine Vielzahl neue E-Bikes auf den Markt, die das ABS serienmäßig an Bord haben, zum Aufpreis zwischen 300 und 500 Euro. Plötzliche Abstiege über den Lenker hinweg, weil die vorderen Scheibenbremsen zu heftig zupacken, gehören zumindest bei diesen Modellen der Vergangenheit an.

Das ABS-System Bosch an der Federgabel verhindert ein blockierendes Vorderrad bei zu heftiger Betätigung der Scheibenbremse.
Über den Boom der E-Bikes ist schon vielfach berichtet worden, auch bei uns. Das Angebot an Fahrrädern mit elektrischer Trittunterstützung ist jetzt schon riesig. Aber es wächst auch diesem Jahr noch einmal. Einerseits durch den Trend zu Light-E-MTBs – leichte Mountainbikes mit schwächeren Motoren und kleineren Akkus für ein natürlicheres Fahrgefühl. Aber auch durch die wachsende Nachfrage nach Lasten-Fahrrädern – die E-Maschine an der Tretkurbel oder in der Hinterradnabe ist in dem Segment inzwischen unverzichtbar.
Elektro-„Gretel“ macht sich klein
Die vielleicht interessanteste Produktneuheit auf dem Gebiet trägt den Namen „Gretel“, ist ein vollgefederter „Kompakt-SUV“ mit drei Rädern und wurde von Bernds Bikes aus Überlingen entwickelt. Der Clou hier: Für den Transport im Auto oder Camper lässt sich die Elektro-„Gretel“ mit Shimano-.Motor auf ein Packmaß von 92 mal 87 Zentimeter falten. Auch weil das Transportrad (mit einer Aufnahme für eine Getränkekiste oder einen Obstkorb auf der Hinterachse) auf 20-Zoll-Rädern rollt.

Bernds Bikes aus Überlingen am Bodensee hat ein Kompakt-SUV mit elektrischer Trittunterstützung entwickelt, das auf drei 20-Zoll-Rädern rollt, sich falten lässt und obendrein über ein smartes Stabilisierungssystem verfügt. Foto:Bernds Bikes
Für Sicherheit unterwegs sorgt ein Stabilisierungssystem, das sie sich am Bodensee ausgedacht haben: Die Antriebskraft wird mit zwei Trommelbremsen auf die Starachse übertragen, was in Kurven zum Abbremsen des äußeren Rades führt. Dieser Effekt wird grösser, je schneller man fährt – aus der Kurve fliegt damit niemand mehr. Auch aus dem Grund ist „Gretel“ auch das perfekte Dreirad für Menschen in fortgeschrittenem Alter. So wie das Sessel-Dreirad Delta tx von HP Velotech, das wir hier schon vorgestellt haben. Der inzwischen 89-jährige frühere „Hobbythek“-Moderator Jean Pütz ist mit dem E-Chopper wieder mobil geworden. Der hohe technische Aufwand hat allerdings seinen Preis: Die E-Gretel ist wenigstens 8200 Euro zu haben, beim Delta tx beträgt der Einstiegspreis 6556 Euro. Mit Rohloff-Getriebeschaltung ist man allerdings schon nahe an der Marke von 10.000 Euro.
Pinion-MGU mischt die Branche auf
Apropos Schaltung: Mit der von früheren Porsche-Ingenieuren entwickelten Motor-Getriebe-Einheit (MGU) hat Pinion 2023 auf der Fahrradmesse Eurobike in Frankfurt für Schlagzeilen gesorgt und zahlreiche Innovationspreise gewonnen. In diesem Jahr wird die Technologie auf breiter Front ausgerollt. Antrieb und Getriebe in einer kompakten Baugruppe, dazu die Möglichkeit, Schaltvorgänge zu automatisieren – das verringert nicht nur beim brandneuen Delite 5GT Pinion (ab 8399 Euro) von Riese&Müller den Wartungsaufwand und sorgt für einen neuen Fahrkomfort.

Pinion hat es geschafft, Antrieb und Getriebe in einem kompakten Gehäuse beinahe wartungsfrei unterzubringen. Inzwischen schaltet die Motor-Getriebe-Einheit sogar auf Wunsch vollautomatisch. Foto: Pinion
Die Verschmelzung von Antrieb und Getriebe zu einer Baugruppe eröffnet ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Designer der Fahrradhersteller und dürfte deshalb für einen neuen Innovationsschub sorgen. Insbesondere dem großen Schaltwerk-Hersteller Shimano dürfte die Entwicklung Kopfschmerzen bereiten: Ihnen könnten wegen der neue Technologie in den kommenden Jahren massive Umsatzeinbußen drohen. Fahrradexperte Fehlau ist deshalb sicher, dass wir schon bald eine ähnliche Konstruktion aus Japan und auch von anderen Komponentenbauern sehen werden. Wer weiß, vielleicht schon im nächsten Fahrrad-Frühling.