Ein brüllender V8-Motor, quietschende Reifen und an jeder roten Ampel das gleiche Spiel: Während der Ford F-150 ebenso still wie spurtstark durch die Grünphasen hechtet, hechelt der schwarze Toyota Tundra mühsam hinterher. An der ersten Ampel reckt dessen Fahrer nur den Daumen raus, an der zweiten den ganzen Kopf. Und als wir wenig später zum dritten Mal von rotem Licht gestoppt werden, prasselt eine Kanonade an Fragen auf die Ford-Besatzung ein. Fragen, die wir noch oft hören werden an diesem Tag.
Kein Wunder, das Auto, in dem wir sitzen, ist schließlich nicht irgendeiner der bis zu eine Million F-Trucks, die Ford jedes Jahr verkauft. Sondern das ist einer der ersten F-150 Lightning, der mit Spannung erwarteten Elektro-Version von Amerikas meistverkauftem Fahrzeug. Pflichtschuldig und im Stenogramm erfährt der Toyota-Trucker deshalb bei den Ampelstopps nach und nach die wichtigsten Eckwerte: „580 PS“, „1050 Nm“, „40 Minuten Ladezeit von 10 bis 80 Prozent“ an der ersten und noch „515 Kilometer Reichweite“ sowie „ab 40.000 Dollar“ an der nächsten Kreuzung.
Bereits 200.000 Bestellungen
Von Stopp zu Stopp wird sein Interesse größer. Es gipfelt – kurz bevor sich unsere Wege endgültig trennen – an der letzten Ampel in einer überraschenden Frage, die man selbst in einem Tesla schon lange nicht mehr hört: „Wollen wir tauschen, jetzt hier und sofort?“ Auffordernd hält er dazu seinen Autoschlüssel aus dem Fenster.
Sorry, da wird der freundliche Mittvierziger in seinem benzingetriebenen schwarzen Ungetüm noch ein bisschen warten müssen – und ist damit in guter Gesellschaft. Denn Ford liegen für den Lightning so viele Bestellungen vor, dass sie in Detroit bereits im Dezember bei 200.000 Bestellungen einen vorläufigen Schlussstrich gemacht haben – um die Aufträge erst einmal in Ruhe abzuarbeiten. Und bei Rivian sieht es für den R1T kaum anders aus. Genau wie bei Tesla und dem Cybertruck, selbst wenn der knapp drei Jahre nach der Premiere immer noch ein Einzelstück ist und der Start einer Serienproduktion in immer weitere Ferne rückt.
Ford F-150 Lightning als Zugpferd
Zwei elektrische Pick-Ups sind bereits im Handel. Und neben dem Tesla sind auch bei den beiden anderen Volumenherstellern, der GM-Marke Chevrolet und dem Chrysler-Ableger Dodge Ram, Elektro-Transporter der urwüchsigen Art in Vorbereitung: Auf dem US-Markt, dem nach China noch immer größten Automarkt der Welt, bahnt sich eine neue Ära an. Denn Pick-Ups sind nicht nur die archaischste, sondern auch die größte Fahrzeuggattung in den USA: 2019 war jedes fünfte Auto im Fahrzeugbestand ein Pick-up. Und jedes Jahr kommen zwei bis drei Millionen neue dazu.
Technische Daten
Ford F-150 Lightning
Allradantrieb mit 433 kW (580 PS) Leistung und 1.050 Nm Drehmoment;
Lithium-Ionen-Akku mit einer Kapazität von 131 kWh (Extended Range) für eine
Reichweite von bis zu 480 Kilometer.
Leergewicht: 2.990 Kilogramm, Anhängelast: 4.500 Kilogramm.
Basispreis: 41.769 US-Dollar, Topversion „Platinium Extended Range“: 92.669 US-Dollar
Dass der Pick-Up erst jetzt, als allerletzte Fahrzeuggattung, elektrifiziert wird, hat gute Gründe, schreibt „Truck Trend“, das wichtigste US-Magazin in diesem Segment: „Ihr Einsatzzweck ist vielfältiger und herausfordernder als bei jedem Pkw oder SUV.“ Sie müssten größere Lasten tragen und schwerer Anhänger ziehen, müssten Offroad fahren und trotzdem komfortable Pendlerautos sein. Und als Bestseller stünden sie zudem für die größten Gewinne und die engste Kundenbindung bei den jeweiligen Herstellern: „Wer sich da ran traut, der muss es richtig machen“.
Das ist Ford offenbar gelungen: „Es gibt nach wie vor viele Herausforderungen, nicht zuletzt beim Aufbau der Infrastruktur und beim Hochfahren der Produktionskapazitäten“, sagt Martin French, US-Partner beim Münchner Strategieberater Berylls. Doch mit der Elektrifizierung dieser Fahrzeuggattung kommt noch mehr Schwung in die Bewegung, und der F-150 könnte sehr wohl zur Zugnummer werden.
Kritik an den Riesen nur in Europa
„Kein Witz, der Lightning ist einer der wichtigsten Pick-Up Trucks, vielleicht sogar Autos überhaut, in der Geschichte,“ attestieren ihm auch die Kollegen von Truck Trend: Dieser Truck müsse Bauarbeiter, Bauern, Viehzüchter, Landvermesser und Otto-Normal-Kunden davon überzeugen, dass elektrische Pick-Ups nicht nur brauchbar sind, sondern begehrlich. Dass sie nicht nur ihren Job machen, sondern dabei auch noch besser sind. „Und genau das macht der Lightning,“ lautet das euphorische Fazit nach deren Jungfernfahrt.
Zwar sind die großen Trucks allein wegen ihres Marktanteils ein großer Hebel für die Elektromobilität und damit auch für eine Minderung zumindest der lokalen CO2-Eissionen. Erst recht, weil viele Truck-Kunden im eigenen Haus wohnen und oft Solarschindeln auf dem Dach haben. Doch schlägt den elektrischen Riesen auch reichlich Kritik entgegen: Zu groß, zu schwer und hoffnungslos überqualifiziert, seien sie ein rundherum verschwenderisches Fahrzeugkonzept, schimpfen die Gegner. Ein Elektroantrieb alleine mache aus ein Saurier keinen Saubermann, so lautet oft der Tenor.
Das ist allerdings eine eher europäische Sichtweise, wo der Pick-Up mehr noch als die SUV zum Sinnbild für automobilen Gigantismus und das gelebte Übermaß gilt. Und ja, bisweilen sind die Pritschenwagen auch in den USA tatsächlich nur groß geratene Familienkutschen. Auch braucht niemand in New York oder Los Angeles wirklich so einen Koloss für die Fahrt ins Büro oder zum Kindergarten – selbst wenn das Straßenbild einen anderen Eindruck vermittelt.
Große Schubkarre mit vier Rädern
Aber trotzdem käme kaum jemand jenseits des Atlantiks darauf, solche Autos in Frage zu stellen. Denn dafür ist der Pick-Up viel zu tief in der amerikanischen Volksseele verankert. Motorjournalist Russell Latch schlägt den Bogen zurück bis zu den Siedlern, die das Land im 19. Jahrhundert für sich eingenommen haben: In den 1800er Jahren hatten, als die meisten Amerikaner noch Farmer waren, konnte zwar jeder sein Auskommen finden, musste dafür aber kräftig schuften. Die ersten Pick-Ups wie etwa der TT genannte Pritschenwagen auf Basis des legendären Ford Model T von 1917 und damit der Urvater des Lightning hätten das Leben der breiten Bevölkerung radikal vereinfacht.
„Satt ein paar hundert Pfund konnten sie mit einer Fahrt plötzlich tausend Pfund Obst und Gemüse transportieren und mit den Scheinwerfern wurde der Arbeitstag in die Nacht verlängert“, schreibt Latch. Und wo die Ware auf der Pferdekutsche oft verdorben war, bis sie auf dem Markt ankam, konnte sie mit dem Pick-Up frisch über lange Distanzen geliefert werden. „Der Pick-Up mag eine glorifizierte Schubkarre sein. Aber es war das Beste, was den amerikanischen Bauern je passiert ist“. Und die machten damals immerhin ein Drittel der Bevölkerung aus.
Seitdem gehört er irgendwie sogar zur Familie, hat Chevrolet herausgefunden. Dafür hat die ewige Nummer 2 auf dem Pick-up-Markt das Marktforschungsinstitut Poll Harris vor einigen Jahren mit einer Art automobiler Psychoanalyse der Stammkundschaft beauftragt und herausgefunden, dass 57 Prozent ihren Truck tatsächlich als Familienmitglied sehen, ihn 45 Prozent an den Nachwuchs vererben wollen und ihn 38 Prozent als den wichtigsten Gebrauchsgegenstand in ihrem Leben werten. Jeder Vierte liebt seinen Truck so sehr, dass er ihm sogar einen Namen gibt, wobei „Betsy“ und „Big Red“ ganz oben auf der Liste stehen. Was dabei übrigens noch heraus kam: Jeder Vierte lernte das Autofahren im Pick-Up, jeder Zehnte hat damit sein Baby von der Geburtsstation nach Hause geholt und neun Prozent hatten auch ihren ersten Kuss in einem Pick-Up.
„Kein Auto für die Elite“
Die Erwartung, dass die Liebe zum Pick-Up aus Sorge ums Klima oder schlicht aus freiwilliger Selbstbeschränkung abkühlen könnte, ist angesichts dieser Erkenntnisse eher illusorisch. Nicht umsonst steht der Ford F-150 als erfolgreichster seiner Art seit mittlerweile 45 Jahren an der Spitze der amerikanischen Zulassungsstatistik. In dieser Zeit hat der Pick-Up alle Ölkrisen überlebt, den Siegeszug erst der Japaner und dann der Koreaner bei Pkw und SUV pariert, ließ sich weder von der SUV-Schwemme noch vom Diesel-Skandal beeindrucken und erst recht nicht vom Hybrid-Hype. Insofern wird er sicher auch die elektrische Revolution überleben.
Er wird sie womöglich sogar beschleunigen, sagt Darren Palmer, der bei Ford die Entwicklung der Elektroautos leitet und die Elektrifizierung mit dem Lightning in die Mitte der US-Gesellschaft zu bringen will – und zwar demographisch wie geografisch. „Denn das hier ist kein Auto für die Elite, sondern für alle“, sagt Palmer mit einem höflichen Hieb auf den Rivian R1T, der dem Lightning ein paar Wochen zuvorgekommen ist. Als auf Lifestyle getrimmter Freizeittruck für die Besserverdiener habe der in seinen Augen mit dem F-150 aber in etwa so viel gemein hat wie ein Porsche 911 mit einem Ford Mustang. In der Theorie seien beide Fahrzeuge Pick-Ups mit ähnlichen Eckdaten. „Aber bei Preis und Positionierung trennen sie Welten.“
Texas ist Pick-Up-Land
Deshalb stellt Ford den Lightning auch nicht bei den Gutmenschen in Kalifornien vor oder in Colorado, sondern in Texas, der heimlichen Heimat des Trucks: Kaum ein Staat hat einen größten Pick-Up-Bestand, meldet der landesweite Flottenvermieter Flex-Fleet und kaum irgendwo werden jedes Jahr so viele neue Verkauft: 20 Prozent US-Zulassungen entfallen auf den „Lone Star-State.“
Die Reaktionen auf den Saurier unter Strom geben Palmer recht. Denn auch wenn der Lightning eher traditionell aussieht und nicht jedem entgegen schreit, dass er ein neues Auto für eine neue Zeit ist, weckt er große Neugier. In einem Staat, für den die Big Three eigene Sonderserien wie den „King Ranch“, den „Lone Star“ oder den „Laramie Longhorn“ auflegen, kennen sie sich so gut aus mit den Trucks. So gut, dass sie den Lightning allein schon an den LED-Bögen erkennen, die sich über Bug und Heck spannen.
Konkurrenzlos großer „Frunk“
Kein Stopp auf der Testfahrt vergeht deshalb, an dem nicht jemand wissen will, was es mit dem Ligtning auf sich hat. Und selbst die junge Mutter in ihrem Minivan auf dem Dorfplatz in Boerne fragt nach dem 400 Liter großen Frunk – jenem Kofferraum unter der einstigen Motohaube, der den Lightning unter den Pick-Ups konkurrenzlos macht: „Da bekomme ich ja sogar den Kinderwagen rein“, staunt sie nach der Besichtigung.
Je länger der Wagen steht, desto detaillierter werden die Fragen – und die Neugier auch anderer Menschen wird größer. Kein Wunder also, dass auch die Demo-Fahrzeuge, die Ford für mehrere Wochen in einem Einkaufszentrum am Rande der Innenstadt von San Antonio in Szene gesetzt hat, ständig dicht umlagert sind. Lange bevor die Testfahrten der Journalisten beginnen, schlendern Passanten um die Pick-Ups herum, sichten sie und informieren sich.
Da lässt sich eine Katie den Frunk erklären und schwärmt davon, dass die Klamotten endlich sauber bleiben, wenn die Familie mit Kind und Kegel und vier Mountainbikes auf der Pritsche ins Wochenende fährt. Da freut sich Joseph, der Schreiner, dass er künftig auf der Baustelle keinen Generator mehr braucht, um seine Sägen und Bohrer zu betreiben. Und alle hören sie gespannt zu, wenn Ford-Ingenieur Matt Stover vom bidirektionalen Laden erzählt und vorrechnet, wie der Lightning für drei Tage ohne Einschränkungen und für bis zu zehn Tage bei sparsamer Nutzung einen ganzen Haushalt mit Strom versorgen kann. Zu gut ist ihnen allen noch der Februar 2021 in Erinnerung, als ein Wintersturm Texas einen tagelangen Blackout bescherte und am Ende viele hundert Tote zu beklagen waren.
Nur Tesla-Fahrer mäkeln rum
Ja, da ist auch Mike, der schon viele Elektroautos gefahren hat und an der vergleichsweise mageren Ladeleistung von 150 kW mäkelt, weil ihm dann die Boxenstopps zu lange werden. „Das machen je selbst Hyundai oder Kia besser, von Tesla oder Rivian ganz zu schweigen.“ Oder Tesla-Fahrer Christopher, dem der Lightning mit seinen vielen Schaltern und Anzeigen rund ums Lenkrad zu altbacken aussieht im Vergleich mit dem cleanen Cockpit seines Model S. Doch substanzielle Kritik hört man kaum, und erst recht stellt hier keiner die Sinnfrage. Denn Zweifel am Pick-Up gibt es im Homeland des Trucks keine. Warum auch?
„Ein Pick-up ist einfach das Auto, das am besten in unseren Alltag passt“, sagt Casey Oagletree. Er ist Chef von Jordanford in San Antonio, einem der größten Auto-Händler in Texas und verdankt das vor allem den mehr als 1.000 Trucks der F-Serie, die jedes Jahr bei ihm vom Hof rollen. Und das liege nicht nur daran, dass die meisten Texaner entweder auf den Ölfeldern arbeiten, Rinderzucht betreiben oder Getreide anbauen. Sondern das liege auch daran, dass man bei schnell mal 100 oder 200 Meilen zum nächsten Supermarkt etwas seltener und dafür ein bisschen mehr einkaufe.
Und vor allem liege es daran, dass die Texaner ihre Freizeit gerne draußen verbrächten: „Jagen, Fischen, Campen, mit dem Quad durch die Wälder oder Wüsten düsen – so verbringen hier viele ihre Wochenende,“ sagt Oagletree.
Gewappnet für den Weltuntergang
Die Marktforscher von Flex-Fleet geben ihm Recht: „Historisch betrachtet sind Texaner ein Volk von Ranchern und Cowboys, harte und treue Arbeiter. Und daran hat sich für viele bis heute nichts geändert. Beim Auto geht ihnen deshalb die Funktion über die Form. Und es gibt eben kein funktionaleres Auto als einen Pick-Up“, schreiben sie in ihrer Anlayse.
Mit dem Lightning kommt eine weitere Disziplin dazu, wirbt Ford-Chefentwickler Palmer für das Flaggschiff seiner E-Offensive: „Pick-Up-Käufer wollen einfach für alles gerüstet sein.“ Und mit seiner bidirektional nutzbaren Batterie tauge der Pick-Up nicht mehr nur für Arbeit, Sport und Spiel, sondern auch für Unwetter, Hurrikans oder eben Blackouts: „So fühlen sich die Leute auch fürs Armageddon gewappnet.“
Deshalb sind sie bei Ford überzeugt davon, dass die Elektroversion auch bei der eher konservativen Kundschaft ankommt. Selbst in Texas. „Hey, wir haben zwar alle Cowboy-Blut in den Adern oder das von Ölbohrern, aber wir sind deshalb keine Hinterwäldler. Nicht umsonst sei Austin, die Hauptstadt des Staates, mittlerweile neben dem Silicon Valley die wichtigste Tech-Metropole im Land. Und nicht ohne Grund habe in Houston die Weltraumagentur NASA ihr Hauptquartier. Und es seien sicher auch nicht nur die hohen Steuern und die strengen Umweltauflagen, die Tesla aus Kalifornien nach Texas vertrieben hätten,“ gibt Autohändler Oagletree den Lokalpatrioten und verpasst dem Bauernstaat einen modernen Anstrich.
Vier von fünf Kunden aus der Verbrennerwelt
Wer das nicht glaubt, dem erzählt er von den 200 Vorbestellungen, die allein seine Verkäufer in den Büchern hätten. Die meisten davon seien übrigens von Kunden, die vorher noch nie ein Elektroauto gefahren zu haben. „Vier von fünf kommen aus der Verbrennerwelt“, sagt Oagletree und nennt den Tesla-Fahrer eine Ausnahme, der im Lightning endlich die perfekte Kombination aus seinem F-150 und seinem Modell S gefunden hat.
Jetzt hofft der Ford-Händler darauf, dass sie in Detroit möglichst schnell die Produktion hochfahren, damit er die Bestellbücher wieder öffnen kann. „Denn ich hätte längst das doppelte an Autos verkaufen können“, stöhnt Oagletree. Doch die Verzögerung hat auch etwas Gutes, kann er doch so auch seine Firma fit machen für die neue Zeit. Denn mit dem halben Dutzend Ladesäulen, die er seinerzeit zur Einführung des Mustang Mach-E auf dem Betriebsgelände aufgestellt hat, wird er nicht mehr weit kommen. „Die Aufträge sind raus und bald stehen hier viermal so viele.“