Lastenräder sind in den Großstädten inzwischen mindestens so populär wie SUVs: Es gibt sehr viele davon – in Hamburg über 10.000 Stück. Und sind inzwischen für viele Menschen ein Hassobjekt, weil sie eine Menge Platz benötigen. Weniger auf den Straßen, sondern vielmehr auf den schmalen Radwegen. Auch vor Geschäften und Hauseingängen können die breitspurigen und dreirädrigen Gefährte schon einmal für Ärger sorgen.
Das Multicharger GT vario von Riese&Müller (R&M) bietet da deutlich weniger Angriffsfläche. Es kommt wie ein ganz normales E-Bike einspurig daher – und kann trotzdem eine ganze Menge aufladen. Bis zu 65 Kilogramm auf dem Heckgepäckträger und bis zu 15 Kilo auf dem Rack vorn. Ob Kinder, leichtgewichtige Ehepartner oder Einkäufe – für jeden Zweck hat R&M das passende Zubehör.
Platz für bis zu zwei Passagiere
Unser mattschwarzes Testbike zum Preis von 6218 Euro war mit dem 169 Euro teuren „Passagier-Kit“ ausgestattet, mit einer gepolsterten Sitzfläche, Speichenschutz, zwei klappbaren Fußrasten sowie einem Handgriff – ideal für den Transport von Kindern jenseits von vier Jahren. Für den Transport von kleineren Zwergen, die noch etwas mehr Halt und Schutz benötigen, gibt es auch ein Safety-Bar-Kit mit einer Art Haltekäfig für Hände und Beine – bei R&M haben sie wirklich an alles gedacht, damit das knapp zwei Meter lange Lastenrad möglichst vielseitig genutzt werden kann und damit seinem Namen alle Ehre macht.
Die Voraussetzungen dafür sind gut: Zum leicht gestreckten Diamant-Rahmen, dem man die Stabilität – aber auch das Gewicht von knapp 30 Kilogramm – schon auf den ersten Blick ansieht, gesellt sich ein Bosch-Antrieb aus der vierten Generation der so genannten Performance Line CX von 85 Newtonmeter Drehmoment. Den Strom für die elektrische Trittunterstützung liefert ein Powertube genannter Akku im Unterrohr mit 625 Wattstunden Kapazität. Etwas ganz besonders Feines sind die stufenlose, über einen Drehgriff zu bedienende Nuvinci-Schaltung von Enviolo (auf die wir später noch zu sprechen kommen) sowie der Gates-Antriebsriemen – niemand muss also befürchten, sich während der Fahrt mit dem Multicharger die Hosenbeine mit Kettenöl zu beschmutzen.
Sieben Zentimeter mehr Radstand
Und wie fährt sich das Multicharger?
Longtails – einspurige Lastenräder mit langem Radstand (hier:1,22 Meter) – gibt es schon länger. Und bekanntlich läuft Länge besonders gut. Zumindest, wen es geradeaus geht. Die erste Tour legen wir solo, ohne Extra-Lasten an, um uns mit der Schaltung und mit dem Antrieb vertraut zu machen. Und es geht flott voran, der Antrieb und die breiten, rollwiderstandsarmen Supermoto-Reifen von Schwalben sind auf Asphalt ein gutes Gespann. Die Scheibenbremsen von Magura verzögern zuverlässig, der Federungskomfort ist akzeptabel, wenn auch nicht überragend: Das Gummielement in der Parallelogramm-Federstütze „Thudbuster“ von Cane Creek dämpft spürbar nur bei sehr groben Schlägen.
Und die stufenlose Enviolo-Schaltung? Ist auf den erste Kilometern etwas gewöhnungsbedürftig für einen, der im Alltag mit Shimano-Kettenschaltungen unterwegs ist. Aber hat man das Prinzip erst einmal begriffen, freut man sich über die Bequemlichkeit. Das parallel gefahrene nagelneue Charger4 GT touring – mit sieben Zentimeter kürzerem Radstand, grobstolligen „Jonny Watts“-Geländereifen, Shimono SLX 11-Gang-Kettenschaltung, aber gleichem Antrieb – schaltete zwar präziser, erfordert aber mehr Schaltarbeit durch den Fahrer. Wer häufiger das Asphaltband verlässt und sich außerhalb der Stadt auch über Feldwege bewegt, ist damit allerdings gefühlt besser aufgehoben, auch wenn die Entfaltung mit der Enviolo auf dem Papier einen Tick größer ist.
Bis zu 175 Kilogramm Gesamtgewicht
Im beladenen Zustand – erst mit der Ehefrau, später mit dem vierjährigen Sohn der Nachbarn auf dem Gepäckträger – wird es schon etwas mühseliger. Weniger auf der Geraden in der Ebene als am Berg und beim Rangieren – die Gewichtsverlagerung von Fahrer und Beifahrer lief nicht immer synchron. Und bei einem Gesamtgewicht von in Summe 175 Kilogramm kommt der Motor aus der CX-Performance-Line schon an seine Grenzen. Möglicherweise wäre für solche Fälle der Antrieb aus der Cargo-Line von Bosch die bessere Wahl.
Was uns noch auffiel: Durch die Integration des Akkus in das Unterrohr sieht das Multicharger sehr gefällig aus. Möchte man den Stromspeicher entnehmen zu nehmen – etwa um den in der Wohnung aufladen zu können, muss zunächst eine Abdeckplatte angehoben werden, die in der Nähe der Tretkurbel fixiert ist – schmutzige Hände sind da kaum zu vermeiden. Und durch die Handgriffe für den Heck-Passagier, die mit der Sattelstütze verschraubt sind, lässt sich die Sattelhöhe nur um wenige Zentimeter variieren. Zudem können die Griffe beim Aufschwingen in den Sattel stören.
Hohe Alltagstauglichkeit und Variabilität
In Summe ist der Multicharger aber ein Lastenrad von hoher Güte und Alltagstauglichkeit, das sich in der Stadt leicht und sicher bewegen lässt – dank einer guten Lichtanlage auch bei Dunkelheit. Es liegt hervorragend auf der Straße. Aufgrund seines hohen Gewichts sollte aber ein ebenerdiger Stellplatz vorhanden sein – über Stufen möchte man es nicht täglich in den Fahrradkeller bewegen. Dafür begeistert die große Variabilität, die dieses Lastenrad offeriert: Problemlos lässt es sich auch als Trekking-Rad nutzen und dafür leicht mit Packtaschen herrüsten.
Voraussetzung ist allerdings eine dicke Geldbörse: Mit einem Basispreis von 5649 Euro ist das Multicharger GT vario von Riese&Müller wirklich nichts für Gelegenheitsfahrer.