Für ungewöhnliche technische Ideen ist der chinesische Elektroautohersteller NIO ja bestens bekannt. Besonders für diese Batteriewechsel-Stationen (Power Swap Stations), von denen es in China über 1500 und bei uns mittlerweile 14 entlang des deutschen Autobahnnetzes gibt. Gerade hat NIO im bayrischen Geiselwind, im hessischen Sulzbach und im nordrhein-westfälischen Kirchlengern neue Akku-Wechsler eröffnet. Im April folgen weitere Stationen an der A6 (zwischen Heilbronn und Nürnberg), in Mühldorf (A94, östlich von München) und in Schkeuditz (A9, am Flughafen Leipzig). Ganz nebenbei wurden die Öffnungszeiten von 7 bis 22 Uhr um insgesamt fünf Stunden verlängert. Und mit der neuesten Generation der Wechslerstationen (PSS 4.0) soll sich der Akku-Austausch künftig auf rasante drei Minuten reduzieren.

Und nun will das chinesische Start-up, das bei uns bislang mit den luxuriösen Limousinen ET5 und ET7, dem smarten Kombi ET5 Touring sowie den SUV-Modellen EL6 und EL7 auf dem Markt ist, beim automatisierten Fahren verschärft Strom für eine führende Position in der europäischen Branche geben. Dreh- und Angelpunkt ist dabei das jetzt in Schönefeld am Rande Berlins eröffnete „Smart Driving Technology Center“, das mit (erst einmal) 25 Ingenieuren sämtliche geplanten Forschungen und Entwicklungen bündeln soll. „Diese Eröffnung ist ein weiterer Meilenstein auf unserem Weg zu einer globalen Premiummarke“, erklärte Hui Zhang, NIOs zuständiger Group Vice President, selbstbewusst in seiner Eröffnungsrede.

Von Europa für Europa
Eröffnung des Smart Driving Technology Center in Schönefeld (v.l.n.r.: Hui Zhang, NIO Group Vice President; Stephan Worch, Wirtschaftsministerium Brandenburg; Harry Rogasch, NIO Senior Director Public Affairs Europe; Mirko Reuter, NIO Senior Director AD Europa; Michael Schumann, BWA; Michael Bose, aBB; Junwei Bao, CEO Seyond; Prof. Dr.-Ing. Peter Fröhlich, Dekan Technische Hochschule Deggendorf)

Fest steht offenbar, und das wurde in Schönefeld immer wieder deutlich, dass NIO auch hier ziemlich ehrgeizige Ziele verfolgt. Und dass Deutschland dabei eine immer wichtigere Rolle spielen soll. „Von Europa für Europa“, diesen Slogan konnte Zhang bei der Eröffnungszeremonie gar nicht oft genug betonen. Immerhin gibt es in München schon seit 2015 das Design-Hauptquartier der Marke und in der Berliner Mitte bereits ein Innovationszentrum der Chinesen.

Partnerschaft mit der Dekra

Schönefeld passt da wunderbar: Der Flughafen BER liegt quasi um die Ecke, junge Entwickler finden sich in der Hauptstadt überall, überhaupt diverse Automobil- und Softwarekompetenzen. Und mit der Dekra, die auf dem nahegelegenen Lausitzring das größte europäische automobile Testzentrum betreibt, hat man schon eine hübsche Partnerschaftsvereinbarung.

NIO-Netzwerk
Insgesamt 14 Batterie-Wechselplätze – sogenannte Power Swop-Stationen wird der chinesische Autobauer bis Ende April in Deutschland in Betrieb nehmen. In fünf Minuten wird hier der Akku des NIO-Stromers vollautomatisch ausgetauscht.

Mirko Reuter, Senior Director AD Europe, der früher unter anderem bei Audi mit dem autonomen Fahren zu tun hatte, hat in Schönefeld den Hut auf. Er soll mit seinem Team alle zukünftigen Fahrerassistenzsysteme auf die Bedürfnisse der Kunden, die bei NIO User heißen, abstimmen. Sein Lieblingsthema ist die von NIO eingesetzte lasergestützte Lidar-Technologie, die mit einer Reichweite von bis zu 300 Metern (für LKWs wären auch 500 Meter möglich) und selbst bei Dunkelheit und Dauerregen perfekt funktioniere. Erstmals vorgestellter Partner ist hier der weltweit führende Spezialist Seyond, dessen Hauptquartier im amerikanischen Software-Eldorado Silicon Valley liegt. Passenderweise gibt es dazu im hessischen Eschborn eine europäische Dependance.

Lidar-Sensoren von Seyond

In Schönefeld war Seyond-Chef Junwai Bao sogar persönlich präsent. „Wir helfen NIO weiter, klarer und smarter zu sehen“, verkündete er lächelnd und lobte überschwänglich die Zusammenarbeit der beiden Unternehmen. Und natürlich den hauseigenen Ultra-high-range-Lidar namens „Falcon K“, der in sämtlichen aktuellen Modellen des Elektroautoherstellers zum Einsatz kommt. Jeweils ideal platziert als stromlinienförmige Ausbuchtung („Watch Tower“) oberhalb der Frontscheibe. Zusätzlich soll es künftig auch seitliche Lidar-Aufpasser geben.

Falkon K im Einsatz
Das Ultra-High-Range-Lidar von Seyond kann bis zu 300 Meter weit sehen – auch bei Dauerregen und Dunkelheit.

Schon jetzt, das verraten uns Stück für Stück die in Schönefeld gezeigten Technik-Videos, sind die derzeitigen NIO-Modelle rundum aufgerüstet wie Robo-Taxis. Fahrzeuge, die im chaotischen Verkehr Chinas, wo Autos und Motorräder abenteuerlich und regelfrei aus allen Richtungen heranrauschen, selbst extreme Ausweichmanöver hinbekommen. Im Reich der Mitte dürfen NIO-Modelle auch bereits vollautomatisch nahegelegene Batteriewechsel-Station ansteuern, wenn diese dafür technisch präpariert sind. „Power Swap-Parking“ nennt sich dieses bequeme Manöver, das schon mal in die nähere Zukunft von NIO weist.

Superchip im neuen Elektro-Flaggschiff

Und das ist offenbar erst der vorsichtige Anfang. Für die mittelfristige Zukunft haben die Chinesen bereits einen hochgestochenen technischen Background in petto. Dabei reden wir über ihren nagelneuen 5-nm-Superchip, der speziell fürs autonome Fahren prädestiniert ist, den NX9031. Haben sie erstmals im Dezember auf ihrem NIO Day 2023 präsentiert, im direkten Zusammenhang mit dem künftigen 5,33 Meter langen Elektro-Flaggschiff ET9, das, digital extrem aufgerüstet, in China im ersten Quartal 2025 startet und in Deutschland womöglich ab 2026 direkt gegen die großen Luxus-Liner von Mercedes, BMW und Audi antreten könnte.

NIO ET 9
Ein richtiges Wunderauto, das laut NIO demnächst „den neuen globalen Sicherheitsstandard“ setzen soll – und möglicherweise schon das hochautomatisierte Fahren auf Level 3 beherrscht.

Der immerhin 1,62 Meter hohe Crossover arbeitet mit Drive-by-Wire-Technik (also rein elektronischer Lenkung), einer zusätzlichen Hinterradlenkung und einer voll aktiven Federung. Dazu kommt eine 900-Volt-Architektur, die beim Aufladen in lediglich fünf Minuten den Strom für 255 weitere Kilometer bunkern soll. Ein richtiges Wunderauto, das laut NIO demnächst „den neuen globalen Sicherheitsstandard“ setzen soll. Nur zu einem deutschen Starttermin des ET9 will Hui Zhang, typische chinesische Geheimniskrämerei, noch nichts sagen. „Nein, da möchte ich nicht einmal spekulieren.“

Und sein Technik-Profi Mirko Reuter behauptet allen Ernstes, dass autonomes Fahren bei NIO derzeit keine besondere Priorität habe, weil die User „darauf keinen großen Wert“ legen würden. Doch das außergewöhnlich hohe digitale Level der Automodelle dieser jungen chinesischen Marke zeigt das genaue Gegenteil. Autonomes Fahren der Stufe drei, bei dem der Fahrer sich unterwegs auch mal kurzzeitig anderweitig beschäftigen kann, sollte spätestens beim ET9 kein Problem mehr sein.

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