Fahrten über die Autobahn mit Höchstgeschwindigkeit können ganz schön stressen. Nicht nur den Fahrer, weil er immer damit rechnen muss, dass andere Verkehrsteilnehmer nicht in den Rückspiegel schauen und plötzlich ihrerseits auf die Überholspur gehen.

Auch ein Elektroauto wird bei solcher Raserei stark beansprucht, merken wir bei unserer Testfahrt durchs Rheinland mit dem neuen NIO EL8. Ein Abschnitt der Autobahn zwischen Bonn und Köln ohne Tempolimit gibt uns in der Mittagszeit Gelegenheit, in den Sportmodus zu wechseln und den rechten Fuß voll durchzudrücken, um dem Topmodell des chinesischen Autoherstellers alles abzuverlangen, was der 480 kW (653 PS) starke Antriebsstrang so hergibt.

Stromer für die Schlossallee 
Mit einer Länge von über fünf Metern zählt der NIO EL9 zu den größten Elektro-SUVs im Lande - und zu den direkten Konkurrenten des Mercedes-Benz EQS SUV und Audi Q6 e-tron. Repräsentativ ist er auf alle Fälle.
Stromer für die Schlossallee
Mit einer Länge von über fünf Metern zählt der NIO EL9 zu den größten Elektro-SUVs im Lande – und zu den direkten Konkurrenten des Mercedes-Benz EQS SUV und Audi Q6 e-tron. Repräsentativ ist er auf alle Fälle.

Das Datenblatt des Allradlers nennt eine Zeit von 4,1 Sekunden für die Beschleunigung auf Tempo 100 und eine Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h. Im Windschatten eines Audi RS6 nehmen wir auch zügig Fahrt auf, erreichen nach gefühlt zehn Sekunden Tempo 200 – und geben uns dem Temporausch hin. Doch keine zehn Kilometer vergehen, da fällt die Geschwindigkeit plötzlich ab, verringert der EL8 deutlich Antriebsleistung, ohne dass der Fahrer seinen rechten Fuß gehoben hätte: Der Antriebsstrang sei nicht auf höchste Belastungen über längere Zeit ausgelegt, hören wir später vom Produktmanager. Es sei ja schließlich kein Rennwagen.

Executive-Version für 87.900 Euro – ohne Akku

Korrekt, mit einer Länge von knapp 5,10 Metern und einem Gewicht von über 2,5 Tonnen ist der Elektro-SUV nichts für die Rennstrecke. Aber eine ähnliche Leistungsverweigerung hatten wir zuvor weder beim Mercedes-Benz EQS SUV (Höchstgeschwindigkeit 210 km/h) noch beim BMW iX (250 km/h), beim Audi Q6 e-tron (210 km/h) oder beim Kia EV9 (200 km/h) erlebt – vier große SUVs mit ähnlicher Positionierung in der elektrischen Premiumklasse.

Da sollten sich die Ingenieure in Hefei noch einmal intensiver mit dem Energiemanagement des Fahrzeugs befassen. Und möglichst bald: Die ersten Fahrzeuge werden schon im September an Kunden in Deutschland ausgeliefert. In den Niederlanden, in Schweden, Dänemark und Norwegen gelten strenge Tempolimits – da dürfte diese Schwäche nicht so bald auffallen.

Alles vom Feinsten 
Die Verarbeitungsqualität ist hoch, Optik und Haptik genügen auch hohen Ansprüchen. Der Fahrer blickt auf ein 16,9 Zoll großes Head-up-Display, ein kleine Anzeige hinter dem Lenkrad und ein 12,8 Zoll großes AMOLED-Display in der Mitte.
Alles vom Feinsten
Die Verarbeitungsqualität ist hoch, Optik und Haptik genügen auch hohen Ansprüchen. Der Fahrer blickt auf ein 16,9 Zoll großes Head-up-Display, ein kleine Anzeige hinter dem Lenkrad und ein 12,8 Zoll großes AMOLED-Display in der Mitte.

First Class und den drei Konkurrenten mindestens ebenbürtig ist das neue Flaggschiff von NIO dafür an anderen Stellen: Beim Platzangebot sowie beim Sitz- und Fahrkomfort. Bis zu sechs Personen finden im SUV in drei Reihen auf Lounge-Sitzen Platz, zumindest in den Reihen eins und zwei wird es da keine Klagen über mangelnde Kniefreiheit oder andere Beeinträchtigungen geben. Schon gar nicht in der luxuriösen, exklusive Akku schon 87.900 Euro teuren Executive-Ausführung des EL8, die wir bewegt haben. Die Sitze sind hier vielfach elektrisch verstellbar, beheiz- und belüftbar und verfügen obendrein über eine Hot-Stone-Massagefunktion. Es gibt Fußstützen, die Möglichkeit, die Sitze während Ruhepausen in bequeme Liegesofas zu verwandeln. Was will man mehr?

Karaoke-Gesang mit 2300 Watt

Erwachsene – Zielgruppe sind in China vor allem Manager, die sich zur nächsten Vorstandsitzung shutteln lassen – werden sich über den kleinen Kühlschrank in der Mittelkonsole hinten freuen. Aber auch über die Möglichkeit, in einem anderen Fach mitgebrachte Speisen für die Mittagspause bis auf 50 Grad erwärmen zu können. Favorit der Kinder – hierzulande wird der Stromer in erster Linie als luxuriöses Familienauto positioniert – dürfte allerdings die Karaoke-App finden, die in das Infotainment-System integriert ist.

Während die mit 23 Lautsprechern bestückte und 2300 Watt starke Soundanlage den Innenraum in Dolby Atmos-Qualität mit dem Instrumental-Playback beschallt, können die Passagiere den aufs Smartphone heruntergeladenen Songtext lautstark mitsingen. Mikrophone zeichnen den Gesang auf – und der Computer bewertet, wer den Ton am besten getroffen hat. Bei Autokäufern in China kommt das angeblich bestens an – wir sind vermutlich zu alt dafür.

Luxus-Shuttle 
Mit seinen sechs Sitzen eignet sich der EL8 nicht nur als Familienkutsche, sondern bestens auch zum Nobel-Taxi. An den Haken nehmen könnte er gebremste Anhänger mit bis zu zwei Tonnen Gewicht. Foto: NIO
Luxus-Shuttle
Mit seinen sechs Sitzen eignet sich der EL8 nicht nur als Familienkutsche, sondern bestens auch zum Nobel-Taxi. An den Haken nehmen könnte er gebremste Anhänger mit bis zu zwei Tonnen Gewicht. Foto: NIO

Schätzen gelernt haben wir auf der Testfahrt hingegen das Doppelkammer-Luftfederung, die den EL8 in Kombination mit adaptiven Dämpfern sowohl bei höheren Geschwindigkeiten als auch im Stadtverkehr sanft über Unebenheiten in der Fahrbahn hinwegschweben lässt. Um älteren Herrschaften den Einstieg zu erleichtern oder den Gepäckraum einfacher zu beladen, lässt sich die Karosserie auf Knopfdruck um einige Zentimeter absenken. Auch die dritte Sitzreihe lässt sich auf Knopfdruck versenken, die zweite hingegen nicht vollständig, was das maximale Ladevolumen auf knapp 1000 Liter beschränkt. 265 Liter sind es bei voller Bestuhlung, 810 Liter nach dem Versenken der dritten Sitzreihe.

Power Swap-Netz wächst

Und auch das Wiedersehen mit „Nomi“ hat uns gefreut: Die kleine Knutschkugel auf dem Cockpit ist dank ChatGPT noch smarter als zuvor und kann auf Zuruf nicht nur viele Informationen liefern und manche Witze erzählen, sondern auch die Klimaanlage und andere Funktionalitäten steuern: Ein Begleiter zum Verlieben. Mindestens ebenso praktisch ist das verbesserte Head-up-Display, das die wichtigsten Fahrinformationen sowie Wegweisungen hochauflösend in die Windschutzscheibe spiegelt.

Hi Nomi 
Der putzige Digital-Assistent auf dem Armaturenbrett ist ganz Ohr und lernt auf diesem Weise rasch dazu. Bild: NIO
Hi Nomi
Der putzige Digital-Assistent auf dem Armaturenbrett ist ganz Ohr und lernt auf diesem Weise rasch dazu. Bild: NIO

Ein anderes Alleinstellungsmerkmal von Nio ist das Batteriewechselsystem, das der Autohersteller stetig weiterentwickelt und, wie Deputy General Manager Christian Wegand betont, in Deutschland mit Priorität vorantreibt. 17 sogenannte Power Swap-Stationen gibt es mittlerweile hierzulande, 51 europaweit. Inzwischen sind auch erste Stationen der dritten Generation am Netz, die den vollautomatischen Austausch des Stromspeichers statt in fünf in nur drei Minuten realisieren und statt 13 bis zu 21 Akkus vorrätig halten. Weitere Power-Swap-Stationen sollen in Deutschland schon in Kürze hinzukommen. NIO bereitet dazu eine Kooperation mit einer bekannten Discounter-Kette vor, die auf dem Gelände ihrer Einkaufsmärkte heute schon in großer Zahl von Ladestationen errichtet hat. Die Genehmigungsprozesse können auf diese Weise deutlich verkürzt werden.

Bürokratius bremst das Geschäft

Regulatorische Hürden erschweren Nio auch anderer Stelle eine schnelle Marktdurchdringung: Während NIO-Fahrer in Norwegen oder Schweden je nach Bedarf entscheiden können, welche Kapazität der in der Power-Swap-Station aufgenommene Akku hat, ist die Zulassung des Fahrzeugs in Deutschland an eine bestimmte Akkukapazität gebunden: Wer einen EL8 kauft und dazu eine 100 kWh-Batterie mietet (nur dann ist überhaupt ein Wechsel möglich), kann nicht auf einen 75 kWh-Akku wechseln, wenn er das Fahrzeug im Stadtverkehr bewegt und den Long-Range-Akku eigentlich nicht benötigt. Entsprechend höher fällt die Batteriemiete aus: 289 Euro statt 169 Euro für den kleinen Speicher.

Wer sich dafür entscheidet, den Akku zu kaufen, zahlt 12.000 Euro (75 kWh) oder 21.000 Euro (100 kWh) dazu – und muss sich damit begnügen, das Fahrzeug an der Ladestation aufzutanken. Mit 11 kW an der Wallbox und dank des weltweit ersten dualen Wechselrichter mit bis zu 240 kW an 660 Ampere-Schnellladern – wo immer die schon stehen. Ansonsten beträgt die maximale Ladeleistung 185 kW beim großen und 140 kW beim kleinen Akku.

Ein Hauch von Porsche 
Der neue NIO EL8 tritt durchaus sportlich auf. Die Heckgestaltung zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit dem Porsche Cayenne.
Ein Hauch von Porsche
Der neue NIO EL8 tritt durchaus sportlich auf. Die Heckgestaltung zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit dem Porsche Cayenne.

Die Norm-Reichweite mit der großen Batterie gibt NIO mit 510 Kilometer an, mit dem 75 kWh-Akku sollen es maximal 391 Kilometer sein. Unsere Testfahrt – so viel sei schon mal verraten – endete mit einem Durchschnittsverbrauch von 25,3 kWh/100 km. Nach nicht einmal 400 Kilometern hätten wir eine Lade- oder Wechselstation aufsuchen müssen.

Aufbau Infrastruktur hat Priorität

Das alles macht NIO das Geschäft in Deutschland nicht besonders leicht. 1500 Autos sind seit dem Marktstart 2022 abgesetzt worden, lediglich 234 Fahrzeuge im vergangenen Jahr. Wegand lässt sich dadurch nicht nervös machen. „Unser oberstes Ziel sind zufriedene Kunden“, sagt er. Der Aufbau der Infrastruktur – von Batteriewechselsystemen und NIO-Hubs für Wartung und Reparatur von Fahrzeugen habe deshalb Priorität. „Wir gehen einen anderen Weg, um uns langfristig zu etablieren.“ Ein Strategiewechsel – etwa zu Kooperationen mit etablierten Händlergruppen – stehe derzeit nicht zur Diskussion.

Artikel teilen

Kommentar absenden

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert