Als „zweites Zuhause“ definiert Firmengründer William Li sein Erfolgsmodell NIO ES6. Er meint damit nicht etwa ein Wohnmobil. Vielmehr fährt sein neues Mittelklasse-Raumschiff mit zahlreichen Ausstattungsdetails aus der automobilen Oberklasse als SUV vor und steht damit für einen Trend, den chinesische Startups aktuell bedienen. Denn anders als die auf Fahrdynamik fokussierten Kunden in Europa bewerten Chinesen den Reisekomfort in dieser Fahrzeugklasse als höchstes Gut.
Der Erfolg des 2019 in China eingeführte NIO ES6 ist dafür ein überzeugender Beleg. Vom NIO-Bestseller wurden bis April diesen Jahres 127.611 Einheiten verkauft, was bis dato 45 Prozent der gesamten NIO-Produktion entspricht. Nach nur drei Jahren fährt nun bereits die zweite Generation ES6 vor – und demnächst auch nach Europa. Die erste Generation hatte noch beim Euro NCAP-Crashtest geschwächelt, so dass auf den Export verzichtet worden war. Wir sind den neuen Fünftürer, der unter dem 73.900 Euro teuren NIO EL7 rangiert, nahe Beijing schon mal Probe gefahren.

Verteidigen müssen sich die Chinesen hier schon lange nicht mehr. Elektroautos vom Schlage des NIO ES6 nutzen sie eher für eine großangelegte Offensive auf die etablierten Automärkte in Europa – und die Rückeroberung des Heimatmarktes.
Auf den ersten Blick vermutet man nur eine Modellüberarbeitung der ersten ES6 Generation: Der glatt gelutschte Karosseriekörper mit LiDAR- und Kamerasensorik im charakteristischen „Watchtower“ (Wachturm) über der Windschutzscheibe wirkt ebenso vertraut wie die von doppelstöckigen LED-Leuchten und Lufteinlässen eingefasste Haifischnasen-Front oder das Heck mit dem heutzutage allseits üblichen durchgehenden Leuchtenband. Tatsächlich aber überbaut die aerodynamisch optimierte, komplett neue Karosserie mit einem in dieser Fahrzeugkategorie sehr guten cW-Wert von 0,25 die neue skalierbare Konzernplattform NT 2.0, die auch die Elektro-Limousinen NIO ET7 und ET5 trägt. Dadurch besitzt die Fahrzeugstruktur nun einen höheren Aluminiumanteil.
Mehr Radstand, mehr Komfort
Der Radstand des neuen ES6 wuchs zudem um 15 Millimeter auf 2.915 mm, die Fahrzeuglänge auf 4.854 mm – was einen Zuwachs von 4 Millimetern bedeutet. Zum Vergleich: Der im nächst höheren Marktsegment fahrende Mercedes EQE SUV ist nur zwei Zentimeter länger. In der Breite um 20 mm auf stattliche 1.995 gewachsen, beträgt die Fahrzeughöhe jetzt 1.703 mm. Das sind über fünf Zentimeter weniger als bisher. Obwohl die Bodenfreiheit um 15 Millimeter wuchs.
Während NIO einen sportlicheren Karosseriekörper auslobt, kommen die Veränderungen aber hauptsächlich dem „zweiten Zuhause“, dem Wohlfühlklima im Interieur, zugute. In der Tat hält der neue ES6 für fünf Passagiere ein Van-artiges Raumgefühl vor. Die Kopffreiheit wuchs vorn um 14 und hinten um 75 mm. Auf den beiden äusseren Fondsitze ist der lichtdurchflutete Raum unter dem 1,3 Quadratmeter grossen Sonnendach am eindrucksvollsten erlebbar. Es öffnet auf einer Länge bis zu 70 Zentimeter.

Im neuen NIO EL6 sollen sich die Besitzer so wohl fühlen wie daheim vor dem Fernseher. Hier gibt es gleich mehrere davon – und den persönlichen Assistenten „NOMI“ als eine Art Unterhaltungskünstler obendrein.
Besonderes Augenmerkt legt NIO auf die selbst entwickelte neue Sitzanlage. Vier, jeweils dreistufig beheiz- und belüftete sowie elektrisch längs verstellbare Einzelsitze (im Fond mit bis zu 31 Grad neigbaren Rückenlehnen) sind verbaut. Sitzflächen und Lehnen sind mit einem atmungsaktiven (Kunst-)Leder überzogen, das zu 16 Prozent nachwachsende Rohstoffe enthält. Sie besitzen zudem elektrisch aufblasbare Luftpolster für individuellen Sitzkomfort. Massagefunktionen mit jeweils vier Modi sind vorn verbaut und können später OTA (over the air) auch für die Fondsitze aufgespielt werden. Das Ergebnis: Man sitzt auf allen Aussenplätzen mit hervorragendem Seitenhalt.
Liegesitz für die Königin
Das Wohlbefinden der Dame des Hauses übt einen positiven Einfluss aufs Familienklima aus, weiss man in China. Es müsse deshalb auch im „zweiten Zuhause“ unterwegs gepflegt werden. Entsprechend halten zunehmend aufwendig gestaltete Multifunktions-Einzelsitze Einzug in chinesische Mittelklasse-SUV. Im ES6 ist ein 22-fach verstellbarer „Queen Seat“ vorn rechts verbaut. Neben den üblichen Komforteinstellungen verfügt er über einen Lounge-Modus: Auf Knopfdruck hebt die Sitzfläche leicht an, die Rückenlehne fährt runter, ein Wadenpolster hoch und einen Fußstütze aus. Ein wahrlich majestätischer Sitz in 172 Grad Liegeposition, mit etwa zwei Meter langer Fläche.
Dafür aufs Handschuhfach zu verzichten, fällt leicht. Die Schlafstellung kann nur im Stand aktiviert, unterwegs aber beibehalten werden. Ob ein optischer Hinweis im Armaturenträger ausreicht, um an Submarining-Gefahren bei einem möglichen Unfall zu erinnern? Angeblich sei alles vom deutschen TÜV abgenommen. Der neue ES6 sei mit fünf Sternen EuroNCAP zertifiziert, versichert der Hersteller.

Autor Jürgen Zöllter am Steuer des neuen NIO EL6 auf Testfahrt rund um Peking.
Und was tut NIO dem Fahrer Gutes? Er gibt ihm ein griffiges Multifunktionslenkrad mit zwei Drucktasten-Feldern zur Hand, über die alle individuellen Einstellungen gesteuert werden können – bis hin zu Fahrfunktionen. Allerdings müssen die Funktionen zunächst belegt werden. Über das Zentraldisplay oder, wem das zu viel „Gefusele“ in Untermenüs ist, mit Hilfe des ständigen Begleiter Nomi. Der Kulleraugen-Sprachroboter auf dem Armaturenträger ist geduldiger Befehlsempfänger für alle Passagiere, doch nur vom Fahrersitz aus nimmt er Anweisungen zu Fahrfunktionen entgegen. Ein nettes Kinderspielzeug, wie wir finden, dem in China allerdings besonders viele Frauen verfallen sind, berichtet die NIO-Marktforschung.
Allradantrieb mit 360 kW
Hinterm Lenkrad informiert ein schmales Tablet über Fahrsituationen einschliesslich einer Grafik, die den Umgebungsverkehr des ES6 abbildet. Darüber hinaus ist neuerdings ein Headup-Display verbaut.
Die ADAM Elektronik-Architektur mit dem neuen AQUILA Sensorsystem nimmt dem Fahrer des ES6 eine Fülle von Überwachungsaufgaben ab. Insgesamt 33 Hochleistungssensoren (einschliesslich LiDAR, Kameras, Radar) erfassen 8 Gigabyte Datenmaterial pro Sekunde, das vier NVIDA Chips blitzschnell aufbereiten. Die Informationen werden für zahlreiche autonome Fahr- und Sicherheitsfunktionen genutzt, die europäische Hersteller höchstens gegen Aufpreis anbieten.
NIO positioniert seinen neuen ES6 als „Allround SUV“ mit sportlichem Fahrverhalten und weist auf 360 kW/482 PS Systemleistung sowie 700 Nm Drehmoment hin. Bereit gestellt von einem vorn verbauten 150 kW (204 PS) starken Elektromotor und einem zweiten an der Hinterachse mit 210 kW (286 PS) Leistung. Das Allradsystem sorgt für ordentlich Grip und soll den Sprint auf 100 km/h in nur 4,5 Sekunden ermöglich.

Der NIO EL6 ist ein ausgewachsenes Elektro-SUV im Stil der neuen Zeit. Mit glattgelutschter Karosse und großem Radstand. Das durchgehende Leuchtband am Heck hat man auch anderswo schon gesehen.
In der Tat geht es im Sport+ Fahrmodus sehr dynamisch zur Sache, der 2,3-Tonner-schiebt unter Volllast kräftig an. Wenngleich die hohe Leistung selbst in Kombination mit spontaner Kraftentfaltung, einer Gewichtsverteilung von nahezu 50:50 Prozent (Vorder-/Hinterachse) und adaptiven Dämpfern aus dem Raumschiff keinen Sportwagen macht. Die geschwindigkeitsabhängige Lenkung verlangt Kurskorrekturen in schnell durcheilten Kurven, die Seitenneigung lässt Passagiere nach Haltegriffen greifen. Doch die kräftig zupackenden Bremsen überzeugen.
In China für umgerechnet 48.000 Euro
Warum NIO den ES6 mit fünf Fahrprogrammen (Sport+, Sport, Comfort, Eco, Individual) ausstattet, bleibt ein Rätsel. Comfort und Eco bieten im Familien-SUV ideale Reisebedingungen. Insbesondere das „One-Pedal“-Fahren in Eco mit Modulation der Rekuperation zum Verzögern gefällt. In Comfort wird mehr gesegelt. Die Sport-Modi halten wir hingegen für überflüssig.
Hilfreich ist die voreinstellbare Kraftverteilung des Allradsystems. Man kann Kraftflüsse für feuchte, verschneite und sandige Strassen einstellen. Sogar für den Hängerbetrieb, denn der ES6 verfügt über eine elektrisch ausfahrbare Kupplung. Bis zu 1.200 Kilogramm Last können damit gezogen werden.

Für die Dame des Hauses gibt es gegen Aufpreis einen 22-fach verstellbaren Beifahrersitz mit „Lounge“-Modus: Auf Knopfdruck verwandelt sich der Stuhl dann in ein bequemes Liegesofa. Fotos: NIO
Zur Markteinführung bietet NIO eine „350 A“-Standardbatterie mit 75 kWh sowie ein „480 A“-Paket mit 100 kWh Speicherkapazität an. Beide können wie bei NIO üblich geleast und an vollautomatisierten NIO-Stationen getauscht werden. Wer sie kauft, bleibt von den Battery Swap-Stationen ausgeschlossen. Das Einstiegsmodell mit Batterie-Leasing kostet in China umgerechnet ab 48.000 Euro. Noch in diesem Jahr werde auch ein 150-kWh-Akku für Fernfahrten verfügbar sein, kündigt NIO an. Mit „Queen“ und Kindern an Bord sollen dann bis zu 700 Kilometer ohne Ladepause zurückzulegen sein.
Ob der neue NIO SUV als ES6 oder EL6 nach Europa kommen wird, ist noch ungeklärt. Die Modellbezeichnung ES6 erinnere zu stark ans Ingolstädter Sportmodell S6, argumentiert Audi immer noch. Wird hier etwa mit Kanonen auf Spatzen bzw. einen Wettbewerber des Audi Q8 e-tron geschossen?