Mit der Zurückhaltung ist es bei NIO vorbei. Tue Gutes und rede darüber, lautet die Devise. Und wo könnte das besser in die Tat umsetzen als beim „NIO-Day“ – William Lis jährlicher Audienz, die diesmal in einem riesigen Musikstadion in Guangzhou stattfindet. Der Stargast des Abends ist der neue NIO ET9, das neue Flaggschiff des chinesischen Herstellers: 5,32 Meter lang mit einem Radstand von 3,25 Metern. Zudem präsentierte mit „firefly“ die nach NIO und Onvo die dritte Marke des noch jungen Konzerns. Der neuen Kleinwagen-Marke widmen wir uns in einem separaten Beitrag.
„Der ET9 ist der Durchbruch in der Automobilindustrie“, strahlt der drahtige Manager von einer riesigen Bühne herab. Ein Video untermauert seine Worte: Der NIO ET9 fährt über eine mit versetzten Hindernissen gespickte Gerade und meistert die Fahrwerkstortur, ohne dass sich die Karosserie merklich bewegt. Dagegen wackelt der Aufbau eines Mercedes Maybach hin und her wie ein Kuhschwanz. Die rund 20.000 chinesischen NIO-Jünger lachen herzlich und brechen dann in frenetischen Applaus aus.
Damit ist das Repertoire des jungen NIO-Gründers noch lange nicht erschöpft. Im nächsten Clip zaubern die Chinesen Herbert Diess aus dem Hut. Als vier gefüllte Champagnergläser wie eine kleine Pyramide auf der Motorhaube des Luxus-Stromers platziert werden, sagt der ehemalige VW-Chef: „Das ist unmöglich!“ Doch die Gläser überstehen die Fahrt über den diesmal ebenen Asphalt unbeschadet und der edle Tropfen wird nicht verschüttet. Herbert Diess ist ebenso beeindruckt wie wir und stößt virtuell mit William Li an. Wir freuen uns schon auf den Test, wenn wir den Stunt in dem automobilen fliegenden Teppich wiederholen. Zumal der ET9 auf 23-Zoll-Walzen rollt.
520 kW Leistung
Das Geheimnis ist das hydraulische SkyRide-Fahrwerk mit einem Federweg von 22 Zentimetern, bei dem die Stoßdämpfer in die elektrische Antriebseinheit der aktiven Aufhängung integriert sind. Die blitzschnelle Reaktionszeit von 50 Millisekunden im Zusammenspiel mit der Bodenfreiheit von 20 Zentimetern führen zu dem samtweichen Fahrerlebnis. Zum Vergleich: Das hydraulische Fahrwerk des Porsche Panamera passt sich innerhalb von 200 Millisekunden an.
Dass ein solches Schiff kein Leichtgewicht ist, liegt auf der Hand. Über das genaue Gewicht schweigt sich NIO noch aus, wir gehen von rund 2,5 Tonnen aus. Der Allradantrieb mit 180 kW (245 PS) Leistung vorne sowie 340 kW (462 PS) hinten – in Summe 520 kW oder 707 PS – und einem maximalen Drehmoment von 700 Newtonmetern wuchtet den ET9 in 4,3 Sekunden von null auf 100 km/h. Die Hinterachslenkung reduziert den Wendekreis auf 10,90 Meter. Und selbst wenn bei 170 km/h ein Reifen platzt, soll der NIO ET9 stabil und beherrschbar bleiben.
Strom laden mit 600 kW
Doch das ist nicht das einzige Pfund, mit dem NIO beim ET9 wuchert. Beim ET9 gibt es zwei Akkugrößen: 120 Kilowattstunden (netto 112 kW) und 100 kWh (netto 95,8 kWh). Die neue, von NIO selbst entwickelte NT 3.0 Plattform des Luxus-Vehikels ermöglicht die 900-Volt-Technik (um genau zu sein, bis zu 925 Volt) und damit das Laden mit maximal 600 kW. Falls die größere Batterie verbaut ist und die Lader mithalten, fließt so innerhalb von fünf Minuten Strom für 255 Kilometer in die Energiespeicher beziehungsweise werden die Akkus von 10 bis 80 Prozent in rund 15 Minuten gefüllt. Oder man nutzt die neueste Version der Batteriewechselstationen. Dann ist der Stunt in drei Minuten erledigt.
Die 100-kWh-Akkus schaffen maximal 325 kW Ladeleistung und so dauert es circa 20 Minuten, um die Batterien von 10 auf 80 Prozent zu füllen. Sind diese Akkus vollständig geladen, kommt der ET9 mit 22 Zoll Reifen bis zu 650 Kilometer weit, sind die 23-Zöller aufgezogen, sind es 620 km. Alles nach dem chinesischen CLTC-Zyklus, dessen Reichweiten höher sind als beim WLTP-Test. Ungeachtet dessen hilft der niedrige Verbrauch von 16,2 kWh/100 km.
Mit „Chefsessel“, Safe und Kühlschrank
Damit diese Strecke so komfortabel wie möglich zurückgelegt wird, bietet der NIO ET9 ein First-Class-Ambiente. Insgesamt 200.000 Stiche sind nötig, um das Leder an die richtige Stelle zu bringen. Der 58,2 Zentimeter breite Chefsessel hinten links bietet eine Fläche von zwei Quadratmetern und ist mit 14 Lagen plus Schaum extra dick gepolstert und knetet den gestressten Manager mit einer 16-Punkt-Massage richtig durch. Mit einem Druck auf den VIP-Knopf verwandelt sich der Fond in einen Schlafwagen, den sieben Gardinen abdunkeln. Bei einem Radstand von 3,25 Metern ist das auch problemlos möglich. In der zweiten Reihe sitzt man so weit hinten, dass die C-Säule den Passagier verdeckt, will man aus- oder einsteigen schwingen die Pforten per Knopfdruck weit auf. Ein Zehn-Liter-Kühlschrank kühlt Getränke auf minus 2 Grad herunter, ein kleiner Safe zwischen den Sitzen sichert Wertsachen.
Ein 48 Zoll breites Band zieht sich quer über das gesamte Armaturenbrett (5K-Auflösung), ein 15,6-Zoll-Touchscreen bildet die Kommandozentrale des Infotainments und ein Head-up-Display mit Augmented Reality hilft dem Fahrer bei der Orientierung. Damit das reibungslos funktioniert, ist der ET9 mit 31 Sensoren bestückt. Dazu kommen drei LiDAR-Einheiten: Eine auf dem Dach sowie zwei weitere vorne links und rechts, die einen breiten Winkel erfassen. Gesteuert wird die Nobel-Limousine durch ein Steer-by-Wire-System.
Preise ab umgerechnet 87.000 Euro – ohne Akku
Im März 2025 beginnen die Auslieferungen in China. Die Preise starten bei umgerechnet rund 103.000 Euro beziehungsweise 87.000 Euro, wenn man sich für Battery as a Service entscheidet, den Stromspeicher also nur mietet statt kauft. Nur dann ist auch die Nutzung der Batterie-Wechselstationen möglich. Wie jetzt schon beim ET7 und den anderen Elektroautos von NIO.