Klar, Teslas Cybertruck polarisiert – und wie. Optisch eine Mischung aus Offroad-Pick-Up, rollendem Geodreieck und Mad-Max-Filmauto ist der knapp 5,70 Meter lange Cybertruck nichts für Schöngeister. Selbst ausgemachte Tesla-Jünger tun sich mit dem grobschlächtigen Kantholz auf mächtigen 285er-Offroad-Pneus schwer.
Auch im Süden Floridas, wo selbst ein pinker Lamborghini Aventador oder eine grellgrüne Mercedes G-Klasse niemandem auffällt, drehen sich Fußgänger und Autofahrer gleichermaßen nach dem Elektro-Pick-Up um. Es geht in die Everglades und da dort die Ladesäulen seltener sind als die Stationen für die Alligator-Touren, empfiehlt sich ein Ladestopp am letzten Supercharger vor den Everglades am Kendall Village Einkaufszentrum. Mit etwas Suchen öffnet sich die Ladeklappe gut versteckt im Plastikradlauf hinten links.
Das cleane, kantig-großflächige Design innen wie außen ist allemal eine Schau – führt aber auch zu einer umständlichen und nicht ganz intuitiven Bedienung. Dies zeigt sich bei der versteckten Ladeklappe ebenso wie bei den Türen ohne Türgriff. Hier heißt es zunächst eine Sensortaste an der B-Säule drücken, bevor die Tür einen Spalt aufspringt und man an die Türkante kommt, um diese zu öffnen. Das Ergebnis sind mehr Handabdrücke an allen vier Türen wie am heimischen Edelstahlkühlschrank.
Null Sicht nach hinten
Innen ist der Cybertruck kaum gefälliger als von außen. Die Bedienung: typisch Tesla, aber eben auch etwas gewöhnungsbedürftig. Da es nur ein paar Knöpfe am Lenkrad gibt, muss fast alles über das 18,5 Zoll große Display in der Mitte gesteuert werden – vom Scheibenwischerintervall bis zu den Lüftungsdüsen, die vorne und hinten elektrisch angesteuert werden. Im Fond blicken die Insassen auf ein gerade einmal 9,4 Zoll großen Bildschirm.
Mit einem Ladestand von 95 Prozent geht es mit offener Ladefläche los in Richtung Süden. Schnell informiert uns das Display, dass sich die Reichweite auf Grund schlechterer Aerodynamik um 25 Meilen verringert – wie aufmerksam. Daher schließe ich das elektrische Laderaumrollo wieder und gewöhne mich daran, dass man durch den Innenspiegel keinerlei Sicht mehr nach hinten hat. Staubempfindliches Ladegut sollte mit in den Innenraum genommen werden, weil die geschlossene Ladefläche nicht komplett dicht ist.
Ohne Autopilot und Abstandsradar
Platz ist dort auch für größere Gegenstände genug vorhanden – zum Beispiel unter der Rücksitzbank. Auf der Ladefläche finden durch das Volumen von über 3.400 Litern große Gegenstände ausreichend Platz und mit geschlossener Jalousie geschützt vor neugierigen Blicken und allzu schnellem Zugriff. An den Steckern lassen sich elektrische Geräte aller Art vom Wasserkocher bis zur Bohrmaschine anschließen. Wenn das nicht reichen sollte: Die Zuglast liegt bei 5.000 kg.
Mit gut 300 Meilen oder 483 Kilometer Reichweite geht es auf der US-41 W erst einmal 20 Meilen geradeaus ins Herz der Everglades. Perfekte Bedingungen für den viel diskutierten Tesla Autopilot – eigentlich. Dieser ist aktuell für den Cybertruck noch nicht verfügbar – nicht einmal ein Abstandstempomat. Nicht so schlimm wie befürchtet, denn spätestens auf der Schotterpiste der Loop Road im Big Cypress National Preserve hätte der Autopilot ohnehin kapitulieren müssen.
Komfortabler als erwartet
Was auffällt ist, dass dieses über drei Tonnen schwere Elektromonster sich überaus komfortabel fährt. Das Um- und Durchfahren der zahllosen Schlaglöcher meistert der Tesla ungemein lässig und entspannt. Bis auf die allzu laute Allradlenkung (nach 15.000 Meilen Laufleistung) ist die Geräuschkulisse des Tesla Cybertruck auf Wohnzimmerniveau.
Für die nötigen Offroadgefühle wird kaum eine Pfütze und kein Dreckloch ausgelassen: eine harte Prüfung für den XXL-Scheibenwischer. Dieser aktuell größte Wischer eines Serienfahrzeugs ist so groß und massiv, dass bei jedem Richtungswechsel ein Impuls an die Karosserie weitergegeben wird. Das spürt man selbst hinter dem Steuer. Es geht weiter durch dschungelähnliche Wälder, über zahllose Brücken und vorbei an vielen Touristen, die den vorbeifahrenden Cybertruck auf einmal interessanter als die spektakuläre Natur der Everglades finden und die Handykameras zücken.
Handlicher als gedacht
Selbst in den USA hat dieses Raumschiff noch immer Seltenheitswert. Beim nächsten Fotostopp werden wir von einem Deutschen angesprochen: „What for a car is this?“ Der Urlauber habe so etwas noch nie gesehen, nicht mal auf Bildern. Das wird nebst Fotosession nunmehr nachgeholt, der ausgefallene LED-Lichtbalken vorne wird dabei freundlicherweise übersehen.
Zurück in der Zivilisation fällt der Cybertruck kaum weniger auf als in den Everglades. Angesichts Allradantrieb und mit 450 kW oder 612 PS Antriebsleistung dürfen hier natürlich ein paar kernige Ampelstarts nicht fehlen. Die Beschleunigung ist für einen derartigen Koloss allemal beeindruckend, denn bei Vollgas geht es in 4,5 Sekunden bis auf 100 km/h. Durch die Allradlenkung fährt sich der Cybertruck zudem deutlich handlicher als man es bei 5,70 Metern Länge hätte erwarten können. Rangieren und Einparken erfolgen gleichermaßen mühelos, doch angesichts der Gesamtbreite von 2,40 Metern dürfte es mit dem Gefährt in Europa – im Cityalltag oder bei der Durchfahrt durch Baustellen – ungemütlich werden.
800-Volt-Technik für schnelles Laden
Nach vier Stunden Fahrzeit und 125 Meilen Fahrstrecke ist der Supercharger in Coral Terrace, einem südlichen Stadtteil von Miami, erreicht. Der Batteriestand zeigt 52 Prozent Restkapazität an. Die Reichweite ist solide, wenn man bedenkt, dass die Klimaanlage angesichts von 35 Grad Celsius und der hohen Luftfeuchtigkeit die ganze Zeit durchlief. Tesla verspricht bei seinem Lademeister dank 800-Volt-Technik ein Nachladen von bis zu 135 Meilen (217 Kilometer) in nur 15 Minuten – an einem entsprechenden Supercharger der neuesten Generation.
Ein rollendes Einhorn ist der Cybertruck übrigens auch im Süden Floridas nicht. Den ganzen Tag über gab es vier Begegnungen mit anderen Cybertrucks. Man grüßt sich noch untereinander. Das hat allemal etwas Gemeinschaftliches im sonst unpersönlichen, amerikanischen Straßenalltag. Und während ich bei der Ladepause mit meinem Beifahrer eine Wendy´s-Limonade trinke, ertappe ich mich dabei, in Gedanken einen Tesla Cybertruck zu kaufen. Aber natürlich nur, wenn sich mein Lebensmittelpunkt in die USA verlagern sollte.
Anfangs-Euphorie ist in den USA verpusst
Dort ist der Pick-Up-Neuling allerdings inzwischen mächtig unter Druck geraten. Denn die schier endlosen Wartezeiten sind längst Vergangenheit und die einstigen Aufpreise für eine schnellere Lieferung verpuffen. Selbst Tesla-Fans berichten von einem Neupreisverfall von bis zu 10.000 US-Dollar pro Woche. Von den Schwarzmarktpreisen über 150.000 US-Dollar ist nichts mehr zu spüren und so geht es für die Basisversion des Cybertruck AWD inzwischen bei exakt 93.990 US-Dollar los. Die Wartezeit, heißt es auf der Website des Unternehmens, liegt aktuell bei nicht einmal sechs Wochen. Einen Export nach Europa sollte sich Tesla da gleich sparen.