Natürlich hätte Togg mit seiner Bühnenpremiere auf die Internationale Automobilausstellung nach München gehen oder sich auf einem Großevent in der Heimat Istanbul der breiten Öffentlichkeit präsentieren können. Doch der erste türkische Autohersteller wollte mehr und gab es einen großen Aufschlag auf der „Consumer Electronic Show“ (CES) in Las Vegas. Auch die anhaltende Pandemie hielt die Tech-Türken nicht von ihrem Vorhaben ab, auf der Tech-Messe in Nevada das selbst entwickelte „Advanced Smart Mobility Ökosystem” zu zeigen – ein Elektroauto, das den Kern eines intelligenten, intermodalen Mobilitäts-Ökosystems bilden soll.
Was sich anhört wie das neueste Hightech-Accessoires aus dem Hause Apple oder Samsung, steht für ein neues Zeitalter. Seit Jahrzehnten schon werden in der Türkei PKW, Nutzfahrzeuge, Busse und Lastwagen gefertigt – doch eben nur von ausländischen Herstellern. Das wurmte nicht nur die bekannt autoaffine Bevölkerung, sondern auch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der seit Jahren alles daransetzt, die heimische Autoindustrie mit einer eigenen Marke zu krönen. 1961 war ein erster Versuch der damaligen türkischen Regierung, mit dem „Devrim“ – das türkische Wort für Revolution – ein eigenes Automobilunternehmen zu gründen, grandios gescheitert: Über die Präsentation von drei Prototypen kam das Projekt nicht hinaus.
Togg will Auto ins Internet bringen
Gut 60 Jahre später soll die Revolution nun gelingen. Hinter TOGG (Türkiye’nin Otomobili Girişim Grubu, zu deutsch: Türkische Automobil Initiativ-Gruppe) stehen fünf Industrieunternehmen: der Mischkonzern Anadolu, der Lkw-Hersteller BMC, die Kok Group, der Telekommunikations-Anbieter Turkcell sowie der Technologie-Konzern Zorlu. Die Partner sind mit jeweils 19 Prozent an der Gesellschaft beteiligt; die restlichen fünf Prozent verbleiben bei Togg selbst. Koordiniert werden die Aktivitäten von der Union der Kammern und Börsen der Türkei (TOBB), was die nationale Bedeutung des Projekts unterstreicht. Gegründet wurde das Unternehmen 2018 mit einer gehörigen Portion Nationalstolz, als eine „globale Technologie-Marke, deren geistiges und gewerbliches Eigentum zu 100 Prozent der Türkei gehört und die den Kern des türkischen Mobilitätsökosystems bilden wird“, wie es in einer Pressemitteilung heißt.
An der Spitze steht mit mit Mehmet Gürcan Karakaş ein ehemaliger Bosch-Manager, der seit Jahrzehnten tief mit der internationalen Autoindustrie verwoben ist. Bevor er zu Togg wechselte, war der Maschinenbau-Ingenieur und Betriebswirt für die Elektroantriebe des Autozulieferers Bosch in Stuttgart verantwortlich. Und der hat große Pläne, spricht von der Produktion von einer Million Fahrzeugen im Jahr 2030, fünf verschiedenen Baureihen – und einer neuen Unternehmensphilosophie, die mehr der von Tesla und Nio folgt als der von VW und BMW. „Die versuchen das Internet ins Auto zu bringen – wir aber werden das Auto ins Internet bringen“, sagt Karakaş. Und: „Wir bauen nicht nur ein Auto, sondern ein Smart Device.“
Togg geht mit Crossover an den Start
Dabei sieht der „Smart Device“, den Togg mit einem Frachtflugzeug in die USA brachte und auf der CES enthüllte, ganz konventionell aus: Die viertürige Fließheck-Limousine mit dem „muskulösen“ Heckdesign und der charakteristischen Schulterlinie, die sich von den Scheinwerfern bis zum Heck erstreckt, könnte auch als Volkswagen oder Volvo durchgehen. Lediglich das Türkonzept sorgt für einen gewissen Wow-Effekt. Das beleuchtete Togg-Logo auf der Fronthaube des Elektroautos soll die Vereinigung östlicher und westlicher Kulturen symbolisieren.
Das erste Serienfahrzeug der Marke wird allerdings ein Crossover sein, verriet der Togg-Chef im Gespräch mit EDISON. „Ende 2022 werden wir unser erstes Serienfahrzeug lancieren. Nach Abschluss der Homologationstests wird unser erstes Fahrzeug im C-Segment, der SUV, im ersten Quartal 2023 auf den Markt kommen“, skizzierte Karakaş die Planung, um stolz hinzufügen: „Es wird es das erste rein elektrische SUV sein, das von einem nicht traditionellen Hersteller auf dem europäischen Kontinent produziert wird.“
Später sollen auf der gleichen Plattform eine Limousine und ein Fließheckmodell im C-Segment in die Produktion gehen. „Mit den dann folgenden B-SUV- und C-MPV-Modellen wird unsere Produktpalette aus insgesamt fünf Modellen bestehen – alle mit der gleichen DNA und der gleichen Plattform.“ Für das Design der Fahrzeuge zeichnet Pininfarina verantwortlich. Mitgewirkt hat bei der Formgebung aber auch der frühere Volkswagen-Designer Murat Günak.
Navigationssystem des Autos denkt intermodal
Zum Antrieb der Stromer machte Karakaş nur wenige Angaben. Zum Start soll es zwei verschiedene Akkupakete für 300 und 500 Kilometer Reichweite sowie zwei Antriebe mit 200 und 400 PS Leistung geben. Viel lieber sprach der Togg-Chef auf der Computer-Messe darüber, wie die vollvernetzten Stromer aus der Türkei zum „Smart Device“ werden.
Etwa mithilfe eines Navigationssystems, das nicht nur das Fahrzeug im Auge hat, sondern intermodal „denkt“. Es weist nicht nur den Weg zum Ziel, sondern zu einer freien Ladestation in der Nähe davon. Das Auto wird dann an der vorab gebuchten Ladesäule abgestellt – während der Fahrer die letzte Meile zu einem Treffen etwa in einem Café mit einem reservierten Elektro-Roller zurücklegt. Vielleicht aber soll für die Fahrt in die Stadt auch ein Bus oder ein Mitfahrdienst genutzt werden. Das Togg-Ökosystem ermöglicht dann die automatische, schnelle und sichere Zahlung dieser Services mithilfe von Blockchain-Technologie und Smart Contracts.
Zur Entwicklung solch smarter Lösung hat Togg bereits eine Vielzahl von Kooperationen geschlossen, unter anderem mit dem von einem türkisch-amerikanischen Informatiker gegründete Netzwerk-Unternehmen Ava Labs aus New York. Auf deren Plattform Avalanche sollen sämtliche Daten der Fahrzeuge analysiert werden – um beispielsweise rechtzeitig Ersatzteile ordern zu können – oder neue Geschäfte im Togg-Ökosystem anzustoßen.
Ende 2022 rollen bei Togg die ersten Autos vom Band
Auf den klassischen Autohandel will Togg so wie Tesla und nahezu alle neuen Auto-Start-Ups verzichten. Der Vertrieb der Fahrzeuge erfolgt ausschließlich über das Internet. Markenstores in den Großstädten sollen lediglich für das Image der Marke sorgen und die Bekanntheit steigern.
Aber erst einmal gilt es, die Produktion auf die Beine zu stellen und die ersten Autos auf die Straße zu bringen. Seit Mitte 2020 laufen in der Nähe von Gemlik im Nordwesten der Türkei die Arbeiten an der neuen Fabrik, in der ab Jahresende die ersten Autos vom Band rollen sollen. Der erste Bauabschnitt zielt auf eine Fertigungskapazität von 175.000 Fahrzeugen im Jahr. Nach und nach soll die Kapazität bis auf eine Million Fahrzeuge ausgebaut werden – so der Plan.
Türkei erwartet zwei Millionen Stromer bis 2030
Das Problem ist nur: Die Türkei hat mit Elektroautos bisher nichts am Hut. Eine Handvoll Ladestationen gibt es bislang nur in Istanbul, Ankara und in der Nähe von Bursa. Und insbesondere die deutschen Premiumhersteller Mercedes, Audi und BMW haben am Bosporus einen Ruf wie Donnerhall – noch. Die türkische Regierung strebt allerdings an, bis 2030 rund zwei Millionen Elektroautos auf die Straße zu bringen – die zum überwiegenden Teil aus der Togg-Fabrik kommen sollen. Und für die sollen in den kommenden acht Jahren landesweit rund 251.000 neue Ladestationen entstehen.
Entsprechend optimistisch gibt sich Karakaş: „In naher Zukunft werden nicht mehr zwangsläufig die großen, sondern die agilen und kreativen Unternehmen erfolgreich sein. Wir haben einen großen Vorteil: Wir sind mitten in diese neue Welt hineingeboren worden.“