Chinesische Autohersteller fluten derzeit den europäischen Markt mit einer Flut von Elektroautos und sind so präsent wie nie zuvor. BYD, MG, Nio, Xpeng, Aiways, Lynk, Ora, Zeekr, GWP, Chery, Leapmotor – manche Marken und ihre Produkte kennt man bereits, andere kämpfen noch um Aufmerksamkeit und Kunden. Der Boom chinesischer Elektrofahrzeuge stelle die größte Bedrohung für Europäische Autohersteller dar, konstatiert kürzlich eine Studie der Allianz-Versicherung. Der Verband der Autoindustrie nennt die Lage „herausfordernd“. Und in Brüssel denkt Ursula von der Leyer, die Präsidentin der EU-Kommission schon laut über Strafzölle für preiswerte Elektroautos aus China nach. Wie groß ist die Bedrohung wirklich? Wir haben dazu ein Gespräch mit Marcus Willand geführt. Der 53-jährige Diplom-Kaufmann und Autoexperte ist Partner bei der Management- und IT-Beratung MHP in Ludwigsburg, die zu 81,8 Prozent Porsche gehört.

Herr Willand, die Europa-Offensive der chinesischen Autobauer war ein großes Thema auf der zurückliegenden IAA. Manche Beobachter fürchten, die Newcomer könnten die heimischen Anbieter verdrängen. Wie groß ist die Gefahr?

Nicht so groß, wie manche meinen. Richtig ist aber, dass unserer Autoindustrie in den Anbietern aus China eine echte Konkurrenz erwachsen ist. Nach einer Umfrage, die wir kürzlich mit 5.000 Konsumentinnen und Konsumenten weltweit durchgeführt haben, können sich in China 98 Prozent der Menschen inzwischen vorstellen, ein Auto aus heimischer Produktion zu kaufen. Auch in Europa und den USA ist die Akzeptanz deutlich gewachsen: Bis zu 50 Prozent der Menschen können sich vorstellen, ein chinesisches Auto zu kaufen. Die zweite Erkenntnis dieses Jahres ist, dass die chinesischen Produkte nicht nur eine bessere Software haben, die näher an den Kundenbedürfnissen ist. Auch bei der Hardware, also bei den physischen Fahrzeugeigenschaften, haben die Hersteller aus China aufgeholt. Sie produzieren inzwischen fast oder bereits auf europäischem Standard.

Das gilt insbesondere für Elektroautos?

Der Markt für Elektroautos boomt in China. Und da sind die heimischen Hersteller inzwischen tonangebend. Anbieter aus Europa sind auf dem Markt fast nur noch eine Fußnote. Nicht nur Volkswagen, sondern auch andere Hersteller. Das ist eine Herausforderung. Aber wir haben auch Stärken, auf die wir auf dem Weltmarkt weiterhin bauen können.

Zum Beispiel?

Nach unserer Mobility-Studie „The Software Race: Chinesische Automobilhersteller auf der Überholspur?“ nimmt die Bedeutung der physischen Eigenschaften in der Wahrnehmung der Autokäufer und Autokäuferinnen etwa um sechs Prozent ab, die der digitalen Eigenschaften um elf Prozent zu.

"Wir haben Stärken, auf die wir weiterhin bauen können"
MHP-Partner Marcus Willand (rechts) im Gespräch mit seinem Kollegen Nils Schauensteiner auf der IAA Mobility.
„Wir haben Stärken, auf die wir weiterhin bauen können“
MHP-Partner Marcus Willand (rechts) im Gespräch mit seinem Kollegen Nils Schaupensteiner auf der IAA Mobility.

Was wiederum eher für die chinesischen als für die europäischen Autobauer spricht.

Ja, aber die Schere haben wir deutlich größer erwartet. Ein qualitativ gutes Produkt zu bauen, ist nach wie vor ein Top-Kaufkriterium. Auf dieser Stärke können wir also aufbauen. Hinzu kommt, dass die Newcomer aus China aufgrund der föderalen Strukturen in Europa große Probleme haben werden, ihre Fahrzeuge zu homologieren. Sie werden darüber Zeit und Ressourcen verlieren. Das gibt den europäischen Herstellern mehr Zeit, ihre Hausaufgaben zu machen. Man darf auch nicht unterschätzen, dass wir in Europa noch ein analoges Vertriebsnetz über Händler haben – auch wenn sich das allmählich in Richtung Direktvertrieb verschiebt. Die Importeure müssen sich deshalb neue Strukturen suchen, um ihre Fahrzeuge absetzen, auch warten lassen zu können.

„Von den 100 Autoherstellern in China werden nur fünf oder zehn überleben.“

Sie sagen also: Alles halb so schlimm?

Die Chinesen sind wie gesagt schon eine Herausforderung. Zustände wie vor der Transformation, also vor dem Auftauchen der neuen chinesischen Marken, werden wir in Europa nicht mehr bekommen. Es kommen mehr Player auf den Markt, die Marktanteile beanspruchen werden, die vorher andere Hersteller besetzt haben. Ob das Wachstum des Gesamtmarkts für Elektroautos das ausgleichen wird, vermag ich nicht vorherzusagen. Allerdings werden auch von den 100 Autoherstellern in China am Ende nur fünf oder zehn überleben. Also auch auf der Seite des Marktes wird eine Konsolidierung stattfinden.

Welche Hersteller sehen Sie besonders gefährdet? Die neuen Anbieter aus China greifen ja erstaunlicherweise nicht am unteren Ende des Marktes an, sondern konkurrieren auch hierzulande durchaus mit Premiumanbietern.

Die Preisstellung chinesischer Produkte in Europa ist allerdings auch eine andere als in China. Die Autos müssen importiert und homologiert werden, es müssen Vertriebsstrukturen aufgebaut werden – das alles schlägt sich im Fahrzeugpreis nieder. Hier zahlt der Kunde mit. Viele greifen deshalb im Premiumsegment an. Aber BYD hat auch viele Angebote im Basissegment. Oder auch MG – die pushen im Augenblick massiv ihre Basic-Fahrzeuge. Ich würde sie nicht mit Dacia vergleichen, aber qualitativ sind sie nicht weit davon entfernt.

Na ja, der MG4 ist kein schlechtes Auto. Und den Roadster Cyberster nähme ich sofort.

Der Roadster ist auch der erste Versuch, die Marke höher zu positionieren. Ähnlich, wie es übrigens jetzt Stellantis mit Lancia macht. Da wird versucht, das Erbe der Marke zu transportieren und daraus Kapital zu schlagen. Wenn die Qualität einigermaßen passt, spielen Design, Infotainment und Preis-Leistungsverhältnis eine entscheidende Rolle. Im Design sind die Chinesen deutlich besser geworden – auch weil es oft in Deutschland gemacht wird. Beim Infotainment haben sie – siehe Nomi bei NIO – einige nette Features, die Kaufimpulse setzen können. Die Chinesen haben auch Vorteile, weil sie sich früh auf den Elektroantrieb und insbesondere auf die Batterie fokussiert haben. Aber auch für die Computerchips haben sie eine eigene Wertschöpfung aufgebaut. Davon profitieren sie jetzt. Da sind wir etwas im Hintertreffen.

Ist die Schwäche auch der Grund, warum derzeit so viele chinesische Autohersteller nach Europa kommen?

Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist die Eintrittsbarriere durch die Elektromobilität geringer geworden. Zum anderen steht dahinter eine politisch getriebene Strategie: Durch die Exporte wird die schwache Inlandsnachfrage in China ausgeglichen.

Zumal die Produktion in China weniger unter Lieferengpässen zu leiden scheint als die in Europa.

Aus den genannten Gründen, aber auch wegen der geringeren Komplexität und Variantenvielfalt in der Produktion. Deshalb sind wir jetzt im Reaktionsmodus. Man darf aber auch die koreanischen Automobilhersteller nicht vergessen. Die stellen inzwischen auch hervorragende Elektroautos her, die gut am Markt ankommen.

„Die Eintrittsbarriere ist durch die Elektromobilität geringer geworden.“

Damit werden die deutschen Hersteller also nun in die Zange genommen. Was muss jetzt passieren, damit die ihre Position behaupten können?

Wir müssen unsere Hausaufgaben machen. Und die liegen im Bereich Software und digitales Kundenerlebnis. Aber wir müssen auch schauen, dass wir das bewahren, was unsere Produkte in der Vergangenheit auszeichnete: Exzellentes Engineering und höchsten Fahrspaß. Wir müssen für Autos, die in China angeboten werden, Funktionen oder Zusatzprodukte entsprechend der Kundenerwartungen anbieten, beispielsweise ein Karaoke-Mikrophon– auch wenn das dem Ingenieur in Wolfsburg oder Stuttgart vielleicht albern vorkommt. Und wir müssen das gesamte Produktions-Paradigma zu einer Software-Priorisierung umkehren. Das ist vielleicht noch der schwierigste Teil der Aufgabe, denn es erfordert eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit. Die Erkenntnis ist zwar schon da, aber es fehlt noch die konkrete Umsetzung – Autos von der Software aufbauend zu entwickeln. Aus unseren Projekten wissen wir: Es wird mit Hochdruck an den Themen gearbeitet. Ich bin deshalb sicher: Wir werden auch weiterhin zu den wettbewerbsfähigsten Automobilnationen in der Welt zählen.

Noch einmal zurück zu den Chinesen: In einigen deutschen Unternehmen sind inzwischen keine Smartphones aus chinesischer Produktion mehr erlaubt, die Bundesregierung will chinesische Komponenten im Telekommunikationsnetz ausschließen. Könnte der Handelskrieg, der sich da abzeichnet, auch den Autoherstellern aus dem Reich der Mitte auf die Füße fallen?

Absolut. Eine Aggression Chinas gegen Taiwan könnte auch Auswirkungen auf das Autogeschäft haben. Im Augenblick, so glaube ich, spielen diese Spannungen für Autokäufer noch keine Rolle. Die schauen aufs Design und auf den Preis und entscheiden danach.

Und nicht die Sorge, das Auto könnte sensible Daten nach China senden?

Das sind Trugbilder, die da herumgeistern. Ein chinesisches Auto, das entsprechend unserer hohen gesetzlichen Anforderungen und Regeln in Europa angepasst werden muss, erfüllt demnach auch unsere Datenschutzbestimmungen. Eine solche Bedrohung durch den großen Bruder in China sehe ich nicht.

Artikel teilen

Kommentar absenden

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert