Chinesische Autohersteller können keine Premium-Produkte? Diese Zeiten sind vorbei! Ein Knopfdruck, Sphärenklänge begleiten ein kurzes Lichtspiel, die Türgriffe fahren aus und der neue XPeng G9 erwartet seinen Fahrer – in wenigen Monaten auch in Europa. Ein 4,89 Meter langes, 1,94 Meter breites und 1,68 Meter hohes batterie-elektrisches Gross-SUV. Ein chinesischer Oberklasse-Stromer, der Audi e-tron, BMW iX und Mercedes EQC ins Visier nimmt. Wir fahren die Topversion des XPeng (auch: Xiaopeng) mit erstaunlichem Ausstattungsumfang in China, wo er seit fünf Monaten wachsende Aufmerksamkeit geniesst.
Zum Hintergrund: Das börsennotierte Unternehmen XPeng, dessen grösste Investoren Alibaba und Foxconn sind, baut EVs erst seit 2019. Parallel werden ein Flugtaxi sowie ein fliegendes Auto entwickelt. Letzteres erhielt zur Prototypen-Erprobung in China gerade die offizielle Flugzulassung. Im Automobilsektor setzt CEO He Xiaopeng verstärkt auf Oberklasse-Ausstattung und die Entwicklung autonomer Fahrfunktionen, um Markenwerte zu schärfen. Die dafür erforderliche Hardware sei bereits im neuen G9 verbaut, sagt er. 20 Prozent Marktanteile an „all-intelligent“ EVs zu erreichen, lautet sein ehrgeiziges Ziel. Auf dem Weg dorthin markiert der G9 einen wichtigen Meilenstein.
Der G9 ist das erste Serienmodell einer chinesischen Marke mit 800 Volt Technologie und Siliziumkarbid (SiC) Halbleitern für extrem schnelles Laden. Xpeng behauptet, dank Energieströmen bis zu 600 A sei es das am schnellsten nachladbare EV der Welt. Bei einem Ladezustand zwischen 10 und 80 Prozent können in nur fünf Minuten rund 200 Kilometer Reichweite aufgesattelt werden. Ein Porsche Taycan lädt in der gleichen Zeit für 100 Kilometer. Der Haken daran: Nur 480-kW-Ladesäulen können derart schnell einspeisen. Und die sind derzeit noch rar.
G9 – Zwischen Luxus und Geschwindigkeit
Grosse Worte und Ladeversprechen, die wir leider noch nicht verifizieren können. Denn solch leistungsstarke Ladestützpunkte befinden sich in China noch im Bau. Wir konzentrieren uns aufs Fahren im luxuriösesten China-SUV, der demnächst in Europa anlanden wird.
Im allradgetriebenen „Performance“-Modell treiben ein 175 kW starker Motor die Vorder- und ein 230 kW Aggregat die Hinterachse an. Die Systemleistung von 405 kW (551 PS) reisst den 2,3-Tonner in nur 3,9 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h. Strom ziehen die E-Motoren aus einer vermutlich (XPeng macht keine Angaben dazu) 100-kWh-Batterie, für etwa 450 km Reichweite nach WLTP. Unser G9 trug uns mit einem Durchschnittsverbrauch von 24,8 kWh/100 km übers Land. Ein angemessener Wert angesichts von Leistungsstärke und Fahrzeuggrösse.
Die enorme Durchzugsstärke begeistert, wenn man die sportlichen Fahrmodi aus dem siebenstufigen Angebot wählt. Im sogenannten Boost Modus liegen 717 Nm Drehmoment nach 0,15 Sekunden Reaktionszeit an. Sie erlauben einen wahren Raketenstart an der Ampelkreuzung. Wer stromsparend auf längere Reichweiten setzt, fährt teilautonom. Die Renault-Tochter Alpine schweigt indes laut zu ihren aktuellen Leistungswerten.
Verbaut ist im G9 ein in dieser Preisklasse einzigartiger Strauß von Fahrer-Assistenzsystemen. Das von uns gefahrene Spitzenmodell kostet in China umgerechnet unter 70.000 Euro. Das Einstiegsmodell ist ab 50.000 Euro zu haben. Ein Zentralrechner arbeitet mit zwei NVIDIA DRIVE Orion Chips, die 508 TOPS (Trillion Operations per Second) bewältigen. Sie werden von 31 Sensoren, einem hoch auflösenden 360-Grad-Kamerasystem und zwei LiDAR Sensoren für 180 Grad Weitwinkel gespeist, die unter den Scheinwerfern wohnen. Das System sei für autonomes Fahren bis Stufe 5 ausbaufähig, behauptet XPeng, es werde mit 5G-Technik OTA (over the air) bespielt. Aktuell sind u.a. ACC, AEB, VPA (Valet Parking Assist), Überholassistent und NGP (Navigation Guided Pilot) für pilotiertes Fahren auf der Autobahn verfügbar. Letzteres reagiert leider zu abrupt auf plötzlich einscherende Verkehrsteilnehmer im recht langsam fliessenden chinesischen Alltagsverkehr. Für den europäischen Markt werde nachjustiert, heisst es.
Kurz vor autonom
Die komplett neue Fahrzeug- und Elektronikarchitektur repräsentiere den letzten Entwicklungsschritt auf dem Weg zum vollautonomen Fahren, erklärt CEO He Xiaopeng selbstbewusst. Zudem sei der G9 das erste, konsequent für internationale Märkte entwickelte Fahrzeug der Marke für höchste Sicherheitsansprüche. Fünf Sterne im Euro NCAP seien sicher.
Oberklasse-Qualität besitzt auch das Fahrwerk mit 21-Zoll-Rädern. Die gelungene Abstimmung lässt vermuten, dass deutsche Experten assistiert haben – aus Weissach. Zwar weist die Lenkung keine Porsche-Charakteristik auf, reagiert aber deutlich gefühlvoller als andere chinesischer Abstammung. Das komfortabel abgestimmte Zweikammer-Luftfederfahrwerk mit 100 mm Aktionsspielraum erinnert mit sänftenartigem Federungsverhalten an den Range Rover. Beeindruckend, wie leise der G9 dank aktiver Geräuschunterdrückung abrollt. Bei Autobahntempo herrscht im Interieur eine einzigartige Ruhe. Trotz rahmenloser Seitenscheiben und hoch aufragender Stirnfläche. Dazu trägt auch der aerodynamisch optimierte, daher leider nur gefällige Karosseriekörper bei. Markante Designmerkmale gehen dem G9 ab. Mit Blick auf die umweltbewusste internationale Kundschaft lobt XPeng eine 95-prozentige Wiederverwendbarkeit aller Ausstattungsmaterialien aus.
Luxus im Innenraum
Purer Luxus im geräumigen Fahrgastraum: Vier elektrisch verstellbare, beheizte und belüftete Einzelsitze mit Massagefunktion plus einem schmalen Mittelsitz im Fond und zwei Zusatzplätze in dritter Reihe, die elektromotorisch aufstellbar sind. Mit echtem Leder bezogen, versteht sich, keinem wiederaufbereitetem Plastikmüll. Ein Lounge-Chefsessel kommt mit höhenverstellbarem Wadenpolster. Doch dieser ist nicht wie üblich hinten rechts verbaut, sondern auf der Beifahrerseite vorn für den besten Blick auf den Panorama-Bildschirm des Unterhaltungsprogramms. Beinfreiheit, und hohes Panorama-Sonnendach sorgen für ein Van artiges Raumgefühl. Die Klimatisierung hält drei stimulierende Duftnoten vor. Alle Plätze bieten USB-Zugänge, sogar eine 220 Volt-Steckdose ist verbaut. Das Kofferabteil schluckt je nach Konfiguration der Fondsitze zwischen 660 und 1.576 Liter. Per Knopfdruck senkt die Luftfederung das Heck um 10 Zentimeter ab – für leichtes Be- und Entladen.
Hinterm abgeflachten Lenkrad informiert ein kleines Tablet über Reichweite, Geschwindigkeit und Verbrauch. Grafisch wird zudem das aktuelle Verkehrsumfeld abgebildet. Man sieht auch nachts, wo Pkw und Lkw in G9-Nähe fahren. Rechts schliesst ein riesiger 14,96-Zoll-Doppelbildschirm an. Über seinen zentral gelegenen Teil werden sämtliche Fahr-, Lade- und Komfortmodi gesteuert, auf der Beifahrerseite laufen Unterhaltungsprogramme. Selbstverständlich einschliesslich einer Karaoke-Funktion. Die verbale Interaktion zwischen G9 und seinen Passagieren erfolgt über einen neuartigen Kommunikations-Assistenten, der Befehle aus vier Zonen separat entgegennimmt und über lokale Lautsprecher nur dort antwortet, wo gesprochen wird. Für seine Markteinführung in Europa muss das System allerdings fleissig Fremdsprachen lernen.
Doch nicht, um seinen Fahrer nach dem Einparken zu verabschieden. Das erledigen (programmierbare) Sphärenklänge und ein Lichtspiel, sobald man sich mehr als drei Meter vom G9 entfernt. Ob europäische Kunden mit Beethovens Fünfter begrüsst und verabschiedet werden könnten, wollen wir wissen. Das Produkt könnte liefern, doch XPeng schweigt.
70.000 Euro samt Luxusausstattung oder doch nur Basis? VW legt beim ID.7 vermutlich eine andere Preisskala an.