Die Kinder hatten ihren Spaß – zur Jahrhundertwende, als der Opel Zafira der ersten Generation auf den Markt kam. Vor allem die Möglichkeit, aus dem Kofferraum zwei zusätzliche Sitze zu „zaubern“, begeisterte sie. Schon im Autohaus hatten sie das geniale „Flex7“ genannte Konzept, das Porsche-Ingenieur für Opel entwickelt hatte, schnell verstanden. Beim Autoverkäufer sorgten sie für erhöhten Blutdruck, als sie danach in das Gepäckabteil kletterten und begannen, die im Boden versteckten Sitze nacheinander herauszuziehen und aufzuklappen.
Am neuen Kia EV9, den die Kollegen von der AutoBild gerade mit dem Goldenen Lenkrad für das beste Familienauto kürten, hätten sie sicher noch mehr Spaß gehabt. Denn bei dem Koreaner entfalten sich die Sitze sechs und sieben – oder fünf und sechs, je nach Konstellation – vollelektrisch auf Knopfdruck. Und die Plätze in der zweiten Reihe lassen sich auch noch verschieben und um 180 Grad oder auch nur 90 Grad drehen. Um im geräumigen Innenraum eine Art Lounge-Situation zu schaffen, das Anschnallen des Nachwuchses im Kindersitz oder den Einstieg (oder Ausstieg) für Senioren zu erleichtern. Die Variabilität des EV9 ist enorm. Nicht nur dem Multivan von Volkswagen erwächst da ein ernster Konkurrent.
Und das ist nicht die einzige Stärke des Fahrzeugs, das auf den ersten Blick wie ein riesiger SUV daherkommt. Mit farbig abgesetzten Radhausverbreiterungen und einem großen dunklen Schlund an der Front, über den sich der Wagen bei hohen Außentemperaturen mithilfe beweglicher Lamellen Luft zufächelt. Viele nehmen da erst einmal eine Abwehrhaltung ein: So was brauchen wir nicht in Europa. Auch der Autor dieser Zeilen war bei der ersten Begegnung mit dem „Monster-Stromer“ in freier Wildbahn nicht frei von Vorurteilen – und musste diese nach einer ausgiebigen Testfahrt mit dem Kia EV9 doch größtenteils revidieren.
Anhängelast von 2,5 Tonnen
Richtig ist: Das neue Elektro-Flaggschiff von Kia ist aufgrund seiner Dimensionen ein Parkhaus-Schreck und für manche Vertreter der sogenannten Letzten Generation sicher ein rotes Tuch. Mit einer Länge von über fünf Metern, einer Höhe von 1,78 Metern und einer Breite von über zwei Metern inklusive Außenspiegeln kommt der EV9 schon ganz schön mächtig daher. Und mit einem zulässigem Gesamtgewicht von 3,2 Tonnen kommt er auch schon der Obergrenze recht nahe, die der Gesetzgebern den Inhabern eines Führerscheins der Klasse B setzt.
Doch der EV9 ist deutlich handlicher und auch behender, als er auf den ersten Blick erscheint, dank des kräftigen und auch drehmomentstarken Elektromotors, aber auch einer Armada von elektrischen und elektronischen Helferlein an Bord. Unser allradgetriebener Testwagen konnte in Summe gut 282 kW oder 384 Pferdestärken mobilisieren – bei einem maximalen Drehmoment von 700 Newtonmeter. Das reicht nicht nur für einen flotten Antrieb, sondern ist auch gut für ordentlich Zugkraft: An die Anhängerkupplung kann der Stromer bis zu 2,5 Tonnen nehmen. Das sind noch einmal 250 Kilogramm mehr als das Model X von Tesla an den Haken nehmen kann. Nicht nur für Pferdebesitzer dürfte das ein Kaufargument sein.
Hohe Ladeleistung für kurze Pausen
Aber nicht nur als Zugmaschine, sondern auch als Reiselimousine beinahe unschlagbar. Unter anderem, weil dank der Akkukapazität von 99,8 Kilowattstunden (kWh) Strecken von über 500 Kilometern an einem Stück möglich werden. Und weil die 800-Volt-Architektur des Stromers Ladeleistungen von bis zu 210 kW möglich macht: Der große Akku ist dadurch spätestens nach 24 Minuten wieder zu 80 Prozent gefüllt. Da reicht die Ladepause gerade mal zur Erledigung der dringendsten Bedürfnisse.
Im sportlich-flachen Kia EV6 fallen die Ladepausen ähnlich kurz aus – von den Ioniq-Modellen der Konzernschwester Hyundai ganz zu schweigen. Aber kein anderes Elektroauto auf dem Markt bietet obendrein so viel Sitz- und Fahrkomfort wie der EV9. Erwachsene müssen selbst in der dritten Sitzreihe keine Anfälle von Klaustrophobie befürchten. Und vorne droht eher Agoraphobie – die Angst, sich in großen Räumen zu verlieren und dort dann irgendwelchen Blödsinn zu machen.
Das Crossover aus Van und SUV bietet dafür in der Topausführung GT-Line manche Möglichkeiten. Vollelektrische, beheiz- und belüftbare Sitze, die sich auf Knopfdruck in Liegen verwandeln. Jede Menge Steckdosen für den spannungsvollen Betrieb von elektrischen Geräten aller Art. Und auch die Möglichkeit, den Innenraum in Sektionen farbig unterschiedlich zu illuminieren, animiert zu allerlei Spielereien. Vom neuen, nun dreiteiligen und deutlich fixeren Panorama-Display ganz zu schweigen. Nicht auszudenken, was der Nachwuchs hier so anstellen würde – wenn der nicht längst erwachsen und (einigermaßen) vernünftig geworden wäre.
Sparsamer als befürchtet
Der EV9 ist aber nicht nur ein große Spielplatz, sondern in erster Linie eine höchst komfortable, geradezu luxuriöse Fahrmaschine. Der Innenraum ist unter anderem mithilfe von Dämmscheiben akustisch wie sensorisch bestens gegen Störeinflüsse von außen gekapselt, die Karosserie zudem enorm steif ausgelegt – selbst bei höheren Geschwindigkeiten (bis zu 200 km/h sind drin) sind kaum Wind-, Reifen- oder Motorengeräusche vernehmbar. In schnellen Kurven kann der Koloss sein hohes Gewicht zwar nicht verleugnen, aber es braucht keinerlei Kraftanstrengungen, um ihn in der Spur zu halten. Auch weil die Lenkung präzise und brav den Befehlen des Fahrers folgt. Und das nicht nur auf dem Asphalt, sondern auch im Gelände, wie unterwegs ein kleiner Abstecher mit dem Allradler auf eine Motocross-Strecke zeigt.
Es gibt – endlich – eine vernümftige Routenplanung, die auf der Langstrecke automatisch Ladepausen unter Berücksichtigung der Verkehrssituation und der Verfügbarkeit von Ladepunkten kalkuliert. Dabei zeigt sich auch, dass der Energieverbrauch des vollelektrischen Kia geringer ist, als die äußere Erscheindung zunächst vermuten lässt: Wir kamen laut Bordcomputer auf mehreren Testrunden im Schnitt mit 23 kWh/100 km aus – gerechnet hatten wir mit Werten knapp unter 30 kWh.
Preise beginnen bei 72.490 Euro
Keine Frage: Der Kia EV9 ist schon ein dicker Elektro-Brummer. Aber die großen Abmessungen und das hohe Gewicht sind im Fahrbetrieb schnell vergessen. Mit 72.490 Euro für die heckgetriebene und siebensitzige Basisversion und von 83.370 Euro für den sechsitzigen Allradler stößt Kia auch preislich in neue Dimensionen vor. Aber auch die relativieren sich schnell. Beispielsweise beim Blick in die Preisliste eines Mercedes EQE SUV: Die Stuttgarter rufen für das deutlich schwächere (180 kW oder 245 PS) und aufgrund einer Länge von nur 4,83 Metern spürbar knapper geschnittene Basismodell EQE SUV 300 mit Heckantrieb bereits 83.478,50 Euro auf – und viele Ausstattungsdetails des Kia müssen da noch teuer bezahlt sein. Der Spaß hört da schnell auf.