Die Logik muss man erst einmal erklären. Bei den meisten Autoherstellern gibt die Modellbezeichnung einen Hinweis, an welcher Stelle an der Wertschöpfung das Fahrzeug steht. Bei Audi steht der A1 am Anfang der Nahrungskette, der A8 für das Höchste der Gefühle. Ähnlich wie bei BMW: Der Dreier rangiert unter dem Fünfer, der Vierer klar unter dem Siebener.
Bei Polestar richtet sich die Hackordnung hingegen nach dem Datum der Modelleinführung. Oder besser gesagt am Zeitpunkt, an dem die Arbeiten am jeweiligen Modell begannen. Die Größe des Modells, die Antriebskraft oder der Stellenwert in der Preisliste sind für die aktuelle Polestar-Nomenklatur hingegen nachrangig.
So war der Polestar One, das erste Modell nach der Verselbstständigung der einstigen Volvo-Submarke im Jahr 2017, ein auf 1500 Exemplare limitiertes und 155.000 Euro teures „Premium-Performance-Hybrid“-Sportcoupe. Der vollelektrische Polestar 2, der 2020 folgte, war deutlich schwächer, kleiner, auch preisgünstiger – und lange Zeit das einzige Fahrzeug im Angebot der Geely-Tochter und Volvo-Schwester.
Dreier rangiert über dem Vierer
Der Polestar 4, der jetzt auf den Markt kommt, rangiert preislich deutlich über dem „Zweier“ – aber auch erkennbar unter dem „Dreier“, dem neuem Flaggschiff der Volvo-Schwester, das eigentlich schon vor Monaten in den Handel kommen sollte. Wobei wiederum der „Vierer“ in der Topausführung mit einer Antriebsleistung von 400 kW noch einen Tick stärker ist als das Spitzenmodell des Polestar 3: Die sogenannte Performance-Version bringt hier lediglich 380 kW oder 517 PS auf die Straße. Das verstehe, wer will. In den Verkaufsgesprächen dürfte das noch für einige Konfusionen sorgen.
Wir sind beide neuen Modelle in den jeweiligen Topversionen gefahren. Und kürzlich auch das Schwestermodell von Volvo. Der erste Eindruck: Mit den beiden Neulingen, die aufgrund von Verzögerungen bei der Softwareentwicklung des „P3“ nun beinahe zeitgleich auf den Markt kommen, macht Polestar einen großen Sprung nach vorne, tritt der „Polarstern“ aus dem Schatten des Schwesterplaneten heraus. Optisch wie auch technisch. Dazu später mehr. Auch weil wir uns hier erst einmal mit dem Polestar 3 beschäftigen wollen, dem Schwestermodell des Volvo EX90. Beide kommen aus den USA zu uns. Etwaige Preiserhöhungen aufgrund von EU-Strafzöllen gegen China-Importe sind deshalb nicht zu befürchten.
Polestar strebt in die Luxusklasse
Die Preise stehen fest – und machen deutlich, wo sich Polestar am automobilen Firmament verortet: Ganz oben, in der Luxusklasse, neben einem Mercedes EQS SUV oder dem BMW iX. Der Basispreis für die heckgetriebene Version mit 220 kW (299 PS) Antriebsleistung beträgt für ein Fahrzeug dieser Größenordnung noch moderate 78.590 Euro. Doch die Möglichkeiten zur Individualisierung sind vielfältig und kostspielig: Unser Testwagen in allradgetriebener Performance-Ausführung und mit Topausstattung hätte knapp 110.000 Euro gekostet. Aber dann lässt er auch wirklich nichts mehr missen. Weder an Antriebspower noch Fahrkomfort, auch nicht an feinen Nappa-Lederhäuten. Dafür steigt mit der Performance auch der Stromverbrauch – was die Reichweite auf 561 Kilometer sinken lässt.
Wer mit einer Akkuladung weiter kommen will, ist mit dem Hecktriebler besser bedient: Der schafft nach der WLTP-Verbrauchsnorm 650 Kilometer in einem Rutsch. Das sind immerhin 70 Kilometer mehr als die Basisversion des Volvo EX90 schafft (580 Kilometer). Allerdings muss der sich auch mit einer etwas kleineren Batterie begnügen, die lediglich 101 kWh fasst – beim Polestar haben alle Modelle unabhängig von Antriebsleistung und Ausführung ein 111 kWh großes Akkupaket an Bord. Reichweitenangst braucht demzufolge hier erst recht niemand zu haben.
Leichtfüßig über die Landstraßen
Und obwohl beide Fahrzeuge die gleiche Plattform nutzen und aus der gleichen Fabrik mit vielen Gleichteilen rollen, gibt es doch einige Unterschiede zwischen den beiden Schwestermodellen, die mit Längen von 4,90 Meter (Polestar 3) und 5,04 Metern (Volvo EX90) der Kategorie der Fullsize-SUVs zuzurechnen sind. Der Volvo EX90 ist als Familienmodell konzipiert und deshalb auch mit sieben Sitzen erhältlich. Der Polestar 3 hingegen als Familiensportler, mit maximal fünf Sitzen und einer spürbar dynamischeren Abstimmung von Fahrwerk und Lenkung.
Bei unserer Testfahrt durch die Voralpen spielte er seine Stärken vor allem bei Überholmanövern auf der Landstraße und in den Bergauf-Passagen eindrucksvoll aus. Auch noch leichtfüßiger als seine Volvo-Schwester, die sich allerdings auch mit einigen Zentnern mehr (2590 statt 2422 Kilogramm) herumschleppen muss.
Trotz seiner relativ hohen Gewichts überraschte der Polestar 3 dabei mit einem erfreulich niedrigen Stromverbrauchs um die 22 kWh/100 Kilometer. Allerdings ließen wir es auf der Autobahn-Passage auch bei umwelt- wie sozialverträglichen 130 km/h bewenden. Wer häufiger die Höchstgeschwindigkeit von 210 km/h antestet und meint, mit Geschwindigkeiten über 160 km/h deutlich schneller am Ziel zu sein, sollte sich aber auf Durchschnittsverbräuche über 30 kWh und mehr einrichten, mahnte Polestar-Technikvorstand Lutz Stiegler. Die Gesetze der Physik lassen sich eben nicht so leicht aushebeln.
250 kW Ladeleistung müssen erst mal reichen
Das gilt auch für das Ladeverhalten. Die Geely-Töchter haben sich darauf verständigt, ihre neuen Modellen vorerst weiterhin mit einem 400-Volt-Bordnetz auszustatten. Weniger aus Kostengründen denn mit Blick auf die Möglichkeit zum bidirektionalen Laden – und die Nutzung des Ladenetzes von Tesla nicht nur in den USA: Die „Supercharger“ liefern Gleichstrom mit nicht mehr als 250 kW. Und mit genau 250 kW hat man trotzdem eine ganz ordentliche Ladeleistung hinbekommen: Der große Akku soll am mit Gleichstrom betriebenen Schnelllader spätestens nach 30 Minuten wieder zu 80 Prozent gefüllt sein. An der mit Wechselstrom betriebenen Wallbox braucht es aufgrund einer maximal Ladeleistung von 11 kW fast einen halben Tag, bis der Stromspeicher wieder zu 100 Prozent gefüllt ist – da hätten wir uns eine schnellere Lösung mit 22 kW gewünscht. In der Aufpreisliste ist dies aber vorerst nicht vorgesehen.
Gedulden muss sich auch, wer beim teilautonomen Fahren über die Autobahn gerne Unterstützung durch ein LiDAR-System von Luminar hätte: Das 5000 Euro teure „Pilot“-Paket (das neben der Lasertechnik auch noch weitere Kameras enthält) wird erst im Frühjahr kommenden Jahres verfügbar sein. Was allerdings auch seine Vorteile hat: Die LiDAR-typische „Warze“ oberhalb der Windschutzscheibe verunziert derzeit noch nicht die Dachlinie. Und ob das Fahrzeug damit auch hierzulande von Level 2 auf Level 3 des hochautomatisierten Fahrens hieven lässt, ist noch längst nicht ausgemacht. Was weniger an der Technik, sondern an der Bürokratie und der grassierenden Beamtenmentalität in Europa liegt.
Da ist das Geld schon besser in die (6000 Euro teure) Soundanlage von Bowers & Wilkins investiert, die das gemeinsam mit Qualcomm und NVIDIA entwickelte Infotainmentsystem krönt und den Polestar 3 in einen rollenden Konzertsaal verwandelt. Wir fangen schon mal an zu sparen: Aktuell betragen die Lieferzeiten für den Polestar 3 etwa vier Monate.