Smart erfindet sich neu. Mal wieder! Diesmal durch den rigorosen Abschied von der Microcar-Marke, die einer Idee des Schweizer Uhrenherstellers Nicolas Hajek („Swatch“) entsprang, von Mercedes-Benz entwickelt und vor 25 Jahren mit einem neuartigen Zweisitzer im Markt eingeführt wurde. Zwar erntete der originelle Winzling mit völlig eigenständiger Technik viel Sympathie, schweisste auch eine überzeugte Klientel zusammen.
Doch diese blieb überschaubar und vermochte die Marke nicht aus den roten Zahlen zu führen. Es folgten technische Synergien mit Renault, ein Viersitzer kam hinzu, schliesslich stellte man auf Elektroantrieb um. Dann erwarb Geely-Mehrheitseigner Li Shufu rund zehn Prozent der Daimler-Aktienanteile.
Smart wird weiblicher
Im vergangenen Jahr trug der zwar als private Investition deklarierte, aber in Fachkreisen niemals ernsthaft als solcher betrachtete „Deal“ erste strategische Früchte: Die Marke Smart fiel zu 50 Prozent in die Hände von Geely, zog nach Hangzhou in die Nähe des chinesischen Headquarters und verkauft seit dem 23. September 2022 den komplett neuen Smart #1. Die elektromobile Markierung mit dem Rautezeichen („Hashtag“) basiert auf der Geely SEA (Sustainable Experience Architecture) Plattform mit batterieelektrischem Antrieb, die ebenfalls von der in Geely Besitz befindlichen Volvo-Tochter Polestar sowie Zeekr genutzt wird. Alle Stromer auf dieser Plattform produziert Geely in China.
Wir sind im Stadtverkehr von Hangzhou unterwegs, doch der neue Smart #1 fällt hier nicht sonderlich auf. Erstens, weil sich kompakte SUV auch in China zunehmend vermehren und inzwischen zum Stadtbild zählen. Und zweitens, weil der neue Smart keine Ecken und Kanten besitzt, an die sich das Auge klammern könnte. Anders als die grossen „Schlitten“ werden die kompakten SUV-Geschwister nicht als Chauffeurfahrzeuge genutzt, sondern von jungen Familien. Nicht selten reisen in China sechs Personen im 5-Sitzer SUV. Und auffällig oft sitzen Frauen am Lenkrad.
Tatsächlich bestätigt Mandy Zhang, dass auch der #1 insbesondere junge weibliche Kunden zwischen 30 und 35 Jahren ansprechen soll. Frau Zhang modelliert als Vice President of Global Sales, Marketing and After Sales der Smart Automobile Co., Ltd. das neue Gesicht der Marke Smart, während das Design des #1 bei Mercedes in Sindelfingen entstand. Im Gespräch mit Frau Zhang wird klar: Die Marke möchte ihre Eigenständigkeit unter starker Berücksichtigung von Ansprüchen neuer chinesischer Kunden weiterpflegen. Ein Spagat, der mehr verlangt als ein Elektromobil von der Stange.
Aus dem Smart wird ein Auto für die Kleinfamilie
Auf 4,27 Meter Länge fährt ein Kompakt-SUV mit weichen femininen Zügen vor und signalisiert: Smart baut kein pfiffiges Microcar mehr, eher ein vom Zeitgeist geprägtes Kleinfamilienauto fürs Marktsegment des BMW Mini Countryman, dessen innere Werte einen Hauch von Mercedes versprühen sollen. Frau Zhang spricht sogar von S-Klasse Anmutung und meint die wertigen Materialien, gepaart mit 64-fach konfigurierbarem Licht-Ambiente unterm ohnehin schon viel Licht spendenden riesigen Sonnendach. In der Tat mutet das Interieur wesentlich hochwertiger an als das des Elektro-Mini aus der BMW-Group oder des VW ID.4.
Auch das Platzangebot über der Elektro-Plattform mit langem Radstand beeindruckt, der Armaturenträger mit zierlichem 9,2-Zoll-Display hinterm Lenkrad (für Reichweite, Ladezustand, Tacho) und stattlichem 12,8-Zoll-Zentral-Tablett aufgeräumt. Die Verknappung mechanischer Schalter folgt dem Vorbild anderer chinesischer Elektrofahrzeuge, die Tesla nachahmen und bekanntlich auch Volkswagen in seinen I.D-Modellen übernommen hat. Nahezu alle Konfigurationen einschliesslich der Fahrprogramme müssen am Touchscreen aufgerufen und über Lenkradtasten justiert werden. Das mag umständlich sein und vom Fahren ablenken, scheint die Smartphone-Generation insbesondere in China aber nicht zu stören.
Unterwegs in der Brabus-Version des Smart #1 mit stolzen 428 PS, die zwei permanent angeregte E-Motoren an Vorder- und Hinterachse liefern, geht’s zügig voran. In 3,9 Sekunden sprintet man aus dem Stand auf 100 km/h. Wenn 543 Newtonmeter Drehmoment unmittelbar zupacken, sollten die Hände das Lenkrad fest umklammern. Das enorme Schub dieses 1,9-Tonners ist zweifellos seine überzeugendste Qualität. Dafür müssen in Deutschland mindestens 48.990 Euro hingeblättert werden. Die Einstiegsvaraiante #1 Pro mit nur einem E-Motor, der 272 PS leistet, kostet hierzulande ab 41.490 Euro.
Brabus mit 400 Kilometer Reichweite
Dass beim häufigen Auskosten der in dieser Fahrzeugklasse einzigartigen Schubkraft des #1 Brabus die versprochene Reichweite von bis zu 400 km mit einer Batterieladung nicht erzielt werden kann, versteht sich von selbst. Doch er sollte überwiegend von Stadtmenschen bewegt werden, die auf eine gute Ladeinfrastruktur zählen können. Der 66 kWh-Akku kann bis zu 150 kW Strom am Schnelllader ziehen, was im Idealfall zum Nachladen von 10 auf 80 Prozent seiner Kapazität rund 30 Minuten dauert, wie Smart verspricht.
Wenngleich das Mercedes-Designteam um Gorden Wagener mit der farbig abgesetzten Dachpartie des #1 und der im Profil sichtbaren, nach hinten aufsteigenden Signatur Akzente gesetzt hat: Die Eigenständigkeit eines BMW Mini besitzt der neue Kompakt-SUV nicht. Deshalb dürfte eine erfolgreiche Neupositionierung der Marke allein über Produkteigenschaften nicht gelingen.
Das scheint auch Frau Zhang zu wissen. Deshalb werde Smart eine Vorliebe junger Chinesen pflegen: Die Liebe zur Community-Bildung, ein Identität stiftendes Alltagsphänomen der chinesischen Gesellschaft. Bereits während der Schulzeit schliessen sich Chinesen in Zimmer-Communities zusammen, später mit Wohnungsnachbarn zu Compound-Communities. Auch in Berufsleben und Freizeit sind sie physisch und virtuell in unzähligen Interessengruppen unterwegs, gestützt auf soziale Netzwerke. In keinem anderen Land der Welt beherrscht eine derart ausgeprägte Chatgruppenkultur den menschlichen Alltag.
Community-Aufbau nach Tesla-Vorbild
Längst nutzen Marketingabteilungen der Autofirmen diesen Mitteilungsdruck junger Chinesen. Beispielsweise veranstaltet NIO jährliche Treffen zur Selbstdarstellung von Marke und Kunden gleichermassen – zuletzt am 24. Dezember 2022 in Hangzhou. Rund 4.500 Gäste bekamen per Losverfahren Zugang zur Arena, in der Firmengründer William Li – nach dem Vorbild von Steve Jobs und Elon Musk – neue Produkte vorstellte. Zwischendurch wurde mit Musikeinlagen und Videoclips kreativer NIO-Kunden bespasst. Auf einer riesigen Freifläche demonstrierten NIO-Kunden ihre Kreativität.
Gestützt auf den regen Chat-Verkehr seiner Fans untereinander verkauft NIO mittlerweile mehr Autos über Community Propaganda als durch direkte Kundenansprache. Der heisse Wunsch von Chinesen, zu Marken-Familien zu gehören, mag Kritikern zwanghaft erscheinen und an die Gläubigkeit von Apple und Tesla Fans erinnern. Tatsächlich ist diese im 1,4-Milliarden-Volk Chinas nochmals deutlicher ausgeprägt, weil sie eine starke Identität in dem von Konformität geprägten gesellschaftlichen Umfeld stiftet. Und sie treibt die Verkaufszahlen in die Höhe.
Auf diesen Zug werde auch Smart aufspringen, kündigt Frau Zhang im Gespräch mit EDISON an. Schon in wenigen Monaten, zum 25. Markenjubiläum geht’s los. In China.
Autoverleih wird kinderleicht
Noch ein anderes landesspezifisches Phänomen spielt Frau Zhang bei der Neupositionierung von Smart in die Hände: Elektromobile überzeugen junge Chinesen weniger mit guten Händlingeigenschaften als mit verspielten Gadgets – Kommunikationsroboter, Karaoke-Programme und Spiele zum Sammeln von Belohnungspunkten unterwegs, die später gegen Hardware eingelöst, in Foren getauscht werden können. Den #1 kann man gegen Bezahlung spielend leicht an Mitmenschen verleihen. Über eine Community-App wird dafür nur ein Zugangscode verschickt. Er ersetzt den Fahrzeugschlüssel.
So verlieren historisch gewachsene Markenqualitäten aus Übersee in den Augen junger Chinesen zunehmend an Bedeutung. Darauf setzen die neuen Smart-Macher ab Mitte 2023 auch mit dem zweiten Modell, einem SUV-Coupé auf gleicher technischer Basis – als Smart #2 für eine Community mit etwas sportlicherem Selbstverständnis.
Es bleibt abzuwarten, wie Identität-stiftend das rasch wachsende Angebot neuer „Smart by Geely“ empfunden wird, um eine grössere Fan-Gemeinde zusammen zu schweissen, als es einst dem Zweitürer gelang. Die erste Produktionscharge zumindest war innerhalb weniger Stunden nach dem offiziellen Bestellstart vergriffen, teilte Smart Deutschland diese Woche mit. „Nach einem sehr intensiven und ereignisreichen Jahr der Vorbereitung und Vorfreude können wir es kaum erwarten, den ersten Kunden nach und nach ihre Autos zu übergeben“, sagte Deutschland-Chef Wolfgang Ufer.