Wenn etwas gut werden soll, kommt es immer auch auf winzige Kleinigkeiten an. Ein erhabener Schriftzug auf der Reifenflanke etwa kann schon für mächtig Verwirbelungen sorgen – auch wenn er vielleicht nur einen Millimeter hervorsteht. Reifenlieferant Goodyear musste also noch mal. Auch anderen Detail wurde gefeilt, immer und immer wieder. An den Heckleuchten, an den Radkästen, an den Rädern und an der Unterboden-Verkleidung. Bis der Rechner nach Messungen im Windkanal endlich einen cw-Wert von 0,20 auswarf – den besten für ein in Serie produziertes Auto.
Die Entwicklung des Elektroautos EQS hat sie bei Mercedes-Benz in den zurückliegenden fünf Jahren alle mächtig gefordert, die Aerodynamiker und Antriebsspezialisten, die Designer und Einkäufer – und nicht zuletzt Christoph Starzynski, den Projektleiter und Verantwortlichen für die Electric Vehicle Architektur (EVA), auf der die neue vollelektrische Luxuslimousine ruht. Denn der Auftrag, der dem Team 2016 vom damaligen Vorstandschef Dieter Zetsche erteilt wurde, hatte es in sich: Baut eine S-Klasse, die Krone in der Modellpalette von Mercedes-Benz Cars, mit Elektroantrieb – und weist Tesla mit einem „Moonshot“ in die Schranken.
Der zweite Teil des Auftrags soll, so versichern alle Beteiligten, wörtlich nie so ausformuliert worden sein. Doch zwischen den Zeilen, sagt einer der beteiligten Ingenieure, sei die Stoßrichtung natürlich von Anfang allen bewusst gewesen: Besser sollte der EQS sein als das Model S, nicht unbedingt schneller, aber komfortabler, intelligenter und effizienter. Mehr Elektro-Auto als Smartphone auf Rädern, reichweitenstark und fahrsicher in allen Situationen und extrem laufruhig. Und Premium auch bei Materialgüte und Verarbeitung – ein echter Mercedes eben.
Verkaufspreise beginnen bei 106.374 Euro
Nun ist das neue Elektroauto fertig. Ende September, Anfang Oktober sollen in Deutschland die ersten Fahrzeuge ausgeliefert werden, die Kunden in den USA werden ein paar Monate später bedient. Inzwischen stehen auch die Verkaufspreise fest – die sich an deen für die S-Klasse orientieren. Für den heckgetriebene EQS 450 plus werden (inklusive serienmäßiger Lederausstattung und Metallic-Lackierung) wenigstens 106.374,10 Euro aufgerufen. Der Allradler EQS 560 4matic startet bei 135.529,10 Euro. Zum Vergleich: Die ähnlich starke Kurzversionen des benzingetriebenen S450 4matic kostet 108.159 Euro. Und der S580e steht mit einem Basispreis von 123.736 Euro in der Preislistet. . Die Marketingstrategen von Mercedes haben sich aber offensichtlich auch am Wettbewerb orientiert, vor allem am Porsche Taycan 4S: Der kostet mit 106.500 Euro fast exakt so viel wie der EQS 450+. Das Tesla Model S ist dagegen trotz der jüngsten Preiserhöhung mit 96.990 Euro in der Ausführung Long Range (652 Kilometer Reichweite) fast schon ein Schnäppchen. Allerdings ist das überarbeitete Modell auch erst im 1. Quartal kommenden Jahres verfügbar.
Und wie in der Industrie inzwischen üblich, haben sich die Mercedes-Strategen zum Verkaufsstart auch ein „Eidtion 1“ genanntes limitiertes Sondermodell einfallen lassen – mit Panorama-Schiebedach, AMG-Optik und 21 Zoll großen Leichtmetallrädern zum Aufpreis von 18.433 Euro.
Auf jeden Fall ist der Mercedes EQS nichts für die Massenmotorisierung. Das Modell ist die technische Speerspitze – oder, wenn man so will, der Gipfelstürmer. Sherpas kommen später nach. Und dafür bringt der neue Mercedes-Benz EQS einiges mit, wie erste Testfahrten mit dem Luxus-Stromer in der Schweiz eindrucksvoll belegten. Nicht nur einen fast schon sensationelle cw-Wert von 0,20 – der bisher Klassenbeste, das Tesla Model S, kommt auf 0,203, Porsche Taycan auf 0,22 und der e-tron GT von audi auf 0,24.
Stromverbräuche wie im elektrischen Kleinwagen
Der cw-Wert alleine aber sagt noch wenig aus – die Wirkung ist viel wichtiger. In Zusammenarbeit mit besonders effizient arbeitenden Elektromotoren kommt der EQS in der aktuellen Topversion 580 4Matic auf eine Reichweite von 676 Kilometern, in der heckgetriebenen Variante 450+ sogar 780 Kilomerer weit – hier wie da gemessen nach der neuen, realitätsnäheren Verbrauchsnorm WLTP. Die Speicherkapazität des flüssigkeitsgekühlten Lithium-Ionen-Akkus tief unten im Fahrzeugboden (noch unter Radnabenniveau) ist bei beiden Modellen übrigens die gleiche: 107,8 kWh (netto). Später soll noch eine Version mit zehn statt zwölf Akku-Modulen und einer Kapazität von 90 kWh nachgeschoben werden.
Der Durchschnittsverbrauch des EQS 450+ wird in den Fahrzeugunterlagen mit Werten zwischen 19,8 (im Drittelmix) und 15,8 kWh (im Stadtverkehr) auf 100 Kilometer angeben. Papier ist bekanntlich geduldig. Das Verblüffende aber war: Nach ausgedehnter Testfahrt mit einem königsblauen EQS 450+ über Landstraßen und die Autobahn, mit viel bergauf einiges an bergab, warf der Bordcomputer einen Durchschnittsverbrauch von 16,5 kWh/100km aus. Und die Testfahrt mit einem schneeweißen EQS 580 4Matic endete mit einem nur geringfügig höheren Wert von 17,1 kWh/100 km.
Wärmelanze statt Wärmepumpe
Klar, das streng überwachte Tempolimit der Schweizer auf der Autobahn von 120 km/h bremste den Fahrer und den Energieverbrauch schon ein wenig ein. Aber wie Starzynski und sein für die Aerodynamik verantwortliche Kollege Jochen Heinzelmann versicherten, seien die WLTP-Werte des Autos wirklich sehr nahe am Alltagsverbrauch – auch unter den Geschwindigkeitsverhältnissen, die heute noch auf bundesdeutschen Autobahnen herrschen und auch im Winter. Elektromobilität, argumentierten die Ingenieure, brauche Vertrauen – und da sollte man bei der Angabe der Verbrauchswerte anfangen.
Allerdings mussten die Entwickler wohl auch ihre gesamte Ingenieurskunst aufwenden, um auf die niedrigen Verbrauchswerte und entsprechend große Reichweiten zu kommen. Praktisch jede Schraube wurde geprüft, jedes Modul neu gedacht. Eine Wärmepumpe für die Aufheizung des Innenraums im Winter? Viel zu energiehungrig – raus damit. Statt desssen wird die Wärme vom Elektromotor und aus dem Kühlkreislauf der Batterie abgezapft.
Auch das gesamte Energiemanagement wurde auf Effizienz getrimmt – bestimmte Module werden nur zugeschaltet, wenn sie wirklich benötigt werden. Wer die volle Rechenkraft des Bordcomputers nutzt und sich bei der Fahrt über Land vertrauensvoll in die Hände des „Eco-Assistent“ begibt, wird möglicherweise die offiziellen Verbrauchswerte noch unterschreiten, weil das System dann auch die Geländetopographie und den Verkehrfluss zur automatischen Steuerung der Rekuperation – der Rückgewinnung von Bremsenergie – nutzt. Besser geht’s kaum mehr.
Serienmäßig mit Luftfederung und Hinterradlenkung
Das gilt auch für den Fahrtkomfort: Der EQS verfügt serienmäßig über Luftfederung. Die soll zwar einen Tick sportlicher abgestimmt sein als die baugleiche in der S-Klasse. Aber es braucht schon ein sehr sensibles Popometer, um die Unterschiede herauszuarbeiten. Der EQS kommt auf eine Länge von fünf Metern und einen Radstand von 3,21 Metern – das sind 30 Zentimeter als im Porsche Taycan. Länge läuft bekanntlich, macht aber beim Rangieren gelegentlich Probleme.
Die Mercedes-Entwickler haben deshalb eine Hinterachs-Lenkung eingebaut. Die hinteren Räder schlagen damit serienmäßig bei Kurvenfahrten um bis zu 4,5 Grad ein, was es erlaubt, selbst Serpentinen eng zu nehmen. Für einen Aufpreis von 1547 Euro wird der Einschlagwinkel der Hinterräder sogar auf 10 Grad vergrößert. Der EQS kann dann zwar immer noch nicht auf der Stelle drehen, aber seinen Wendekreis auf 10,9 Meter verkleinern. Zum Vergleich: Das Tesla Model S braucht einen Wendekreis von 12,5 Metern und selbst das kleine Model 3 noch 11,6 Meter für eine Kehrtwende auf der Straße.
Dafür können Tesla, Porsche und auch der Audi deutlich rasanter sprinten – bis auf Tempo 100 braucht der EQS 4,3 Sekunden statt 3,2 im Tesla oder 4,0 im Taycan. Geschenkt – für Halbstarke mit überhöhtem Testosteron-Spiegel ist der Mercedes ohnehin nicht konzipiert. Er ist eher ein Gefährt für Freunde einer entspannten, sozialverträglichen Fortbewegung. Die Geräuschdämmung wurde dafür perfektioniert. Vor allem in der heckgetriebenen Version dringt kaum ein Säuseln ans Ohr des Fahrers. Dämmmaßnahmen im Innenraum und in den Radhäusern, eine Doppelverglasung und geräuschoptimierende Maßnahmen an der Karosserie zahlen sich dabei aus.
Ab 2022 vollautonom fahren auf Level 3
Für zusätzliche Entspannung wird ab kommendem Jahr der „Drive Pilot“ sorgen – auf Autobahnen und bis zu Tempo 60 (mehr ist derzeit vom Gesetzgeber nicht erlaubt) kann dann der Fahrer auf Knopfdruck die volle Kontrolle über den EQS an den Bordcomputer übergeben und sich derweil den eingegangenen E-Mails widmen – oder eine Runde Memory auf dem megagroßen „Hyperscreen“ über der Mittelkonsole spielen.
Eine Heerschar von Kameras, Radar- und Lidarsensoren wertet derweil das Verkehrsgeschehen aus. Kommt von hinten ein Rettungsfahrzeug mit Blaulicht angesaust, macht es sogar automatisch eine Rettungsgasse frei. Tesla-Chef Elon Musk würde das System großspurig einen „Auto-Piloten“ nennen. Bei Mercedes bleiben sie hingegen lieber bei den Fakten – für Systementwicklerin Stefanie Schmidt ist es nur „hochautomatisiertes Fahren auf Level 3“. Erlaubt ist es vorerst auch nur in Deutschland – hier hat die Politik immerhin kürzlich die gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen.
Der Mercedes EQS ist wahrlich ein ingenieurstechnisches Wunderwerk, deren Türen sich (zu einem späteren Zeitpunkt, auf Wunsch und gegen Aufpreis, versteht sich) wie in einem Rolls-Royce sogar elektrisch öffnen lassen. Zum Öffnen der Fronthaube hingegen braucht es einen Spezialschlüssel, den nur die Mechatroniker in der Werkstatt haben. Zum Nachfüllen des Scheibenwischwassers gibt es dafür eine kleine Serviceklappe an der linken Vorderseite. Die Botschaft ist klar: Vorne steckt hochkomplexe Antriebstechnik unter Hochspannung sowie – sofern für 535 Euro geordert – ein großer und hochsensibler HEPA-Filter zur Reinigung der Luft von Feinpartikeln, Viren und Bakterien. Also Finger weg.
Zum Verstauen der Ladekabel und des Gepäcks muss also der doppelstöckige Kofferraum unter der elektrisch betriebenen großen Heckklappe genügen, der immerhin bis zu 1770 Liter fasst – wenn man denn die Rücksitzlehnen umklappt. Bei voller Bestuhlung – fünf Plätze sind Serie – sind es immerhin 610 Liter, die zu füllen sind. In den Kofferraum des Tesla Model S passen immerhin 745 Liter. Und einen „Frunk“, einen zweiten kleinen Kofferraum unter der Fronthaube, gibt es dort obendrein.
In der Disziplin geben sich die Stuttgarter dem Wettbewerber gerne geschlagen: „Man kann nicht alles haben.“ Und Mountainbikes und ähnlich sperriges Gut transportiere man im Innenraum eines Mercedes EQS ohnehin nicht – dafür gebe es auf Wunsch eine wegklappbare Anhängerkupplung.
Da wäre er dann – der Sherpa für den Gipfelstürmer.
Die Geschwindigkeitsbeschränkung auf Schweizer Autobahnen ist 120 km/h.
Danke für den Hinweis, wird korrigiert.