Carlos Tavares ist ein Mann der klaren Worte. Unlängst machte der Stellantis-Chef einmal mehr deutlich, dass die Profitabilität für ihn an erster Stelle steht und er auch bereit ist, dafür heilige Kühe zu schlachten. „Wenn sie kein Geld einbringen, werden wir sie schließen. Wir können es uns nicht leisten, Marken zu haben, die nichts verdienen“, erklärte der Portugiese unlängst, als er einen drastischen Gewinneinbruch verkünden musste: Im ersten Halbjahr 2024 ging der Nettogewinn des Mehrmarken-Konzerns um fünf Milliarden auf 5,6 Milliarden Euro zurück.
Angesichts dieser markigen Worte kommt die Frage auf, welche Rolle Leapmotor künftig im Stellantis-Konzern spielen soll. Schließlich ist der Newcomer nicht der einzige chinesische Autobauer, der mit großen Eroberungszielen nach Europa kommt. Andere hatten ähnliche Ambitionen und sich eine blutige Nase geholt. Great Wall Motor (GWM) hat bereits die Reißleine gezogen und seine Europa-Aktivitäten vorerst auf Eis gelegt. Auch weil hier der Markt für Elektroautos derzeit eine Schwächephase durchmacht.
Leapmotor ist ein vergleichsweiser kleiner Fisch im chinesischen E-Auto-Haifischbecken: Der Autobauer hat im Juli das 400.000 Exemplar seit der Gründung 2015 ausgeliefert. Zahlen, über die Manager von BYD nur müde lächeln können. Einen weiteren Klotz am Bein kann und will sich Carlos Tavares sicher nicht leisten. Doch der Portugiese macht nichts ohne Kalkül und investiert schon gar nicht 1,5 Milliarden Euro, um die Mehrheit an einem chinesischen Autobauer zu erwerben, der keine Gewinne abwirft.
Leapmotor startet mit zwei E-Autos
Die Pläne der Chinesen sind jedenfalls ehrgeizig: Leapmotor will bis Ende 2024 wenigstens 200 Verkaufsstellen in Europa etablieren, 2026 sollen es bereits 500 sein. Das ist nur möglich, indem die Chinesen das Vertriebsnetz des Stellantis-Konzerns nutzen – Opel- und Peugeot-Händler ebenso wie die von Fiat, Alfa Romeo, Jeep, Citroen und DS. Alles Marken, die längst eigene Elektroautos im
Interessant wird es, wenn man sich die beiden Modelle anschaut, mit denen Leapmotor in Deutschland und Europa erfolgreich sein will. Der 4,73 Meter lange Elektro-SUV C10 will im Revier von Tesla Model Y und Skoda Enyaq wildern, während der 3,62 Meter lange E-Kleinwagen T03 mit Preisen unter 20.000 Euro dem Dacia Spring und dem BYD Seagull den Rang ablaufen soll. So weit, so gut.
Drohen Kannibalisierungseffekte?
Doch im Stellantis-Konzern gibt es Marken wie Citroën (mit dem ë-C3) oder Fiat (mit dem Panda), die im Einsteiger-Segment erfolgreich sein wollen. Ganz zu schweigen von Opel und Peugeot. Eine Kannibalisierung droht.
„Die BEVs von Leapmotor haben im Vergleich zu denen von Stellantis in Europa eine andere Marktpositionierung. Leapmotor richtet sich vor allem an junge und technikaffine Verbraucherinnen und Verbraucher, die Wert auf intelligente Funktionen, Konnektivität und Personalisierung in ihren Fahrzeugen legen. Daher ist Leapmotor keine Bedrohung, sondern eine zusätzliche Chance“, lässt Stellantis verlauten. Der Leapmotor-Produktplan bis 2027 steht jedenfalls bereits: Nach den beiden Debütanten sollen zwei weitere SUVs und Fließheckmodelle folgen.
Papier ist geduldig. Die Realität dürfte auf dem hart umkämpften Markt anders aussehen. Doch Tavares denkt in anderen Dimensionen. Er weiß, dass das ein großer Automobilkonzern nur dann langfristig erfolgreich sein kann, wenn man in allen wichtigen Regionen ein konkurrenzfähiges Angebot hat. „Mit der strategischen Investition in Leapmotor können wir von der Wettbewerbsfähigkeit der Marke profitieren – sowohl in China als auch andernorts“, antwortet Stellantis auf Nachfrage. Man will sich in Zukunftsmärkten wie Südostasien, Indien oder Südamerika in Stellung bringen. Wobei die Elektromobilität dort oftmals noch ein Wechsel auf die Zukunft ist.
Chinesen drehen den Spieß um
Um den wichtigeren Grund des Neuerwerbs auf die Schliche zu kommen, lohnt ein Blick in die Vergangenheit. Als Peugeot-Citroën (PSA) 2017 Opel übernahm, holte sich Tavares auch das Know-how der deutschen Ingenieure ins Boot. Ähnlich wie der Rüsselsheimer Autobauer verfügen die Chinesen bei Infotainment und Konnektivität über eine Expertise, die jeder Autohersteller händeringend sucht. Nicht ohne Grund hat VW ebenfalls mit Leapmotor verhandelt – den Zuschlag erhielt allerdings Stellantis. Für vergleichsweise überschaubare 1,5 Milliarden Euro. Die Wolfsburger sind daraufhin bei Rivian eingestiegen, für angeblich bis zu fünf Milliarden Euro.
„Klar ist, jeder große Hersteller braucht kurzfristig attraktive elektrische Optionen in seinem Modellportfolio. Darüber hinaus arbeitet die Branche daran, die Software-Revolution, welche wir erleben, auch ins Auto zu bringen“, weiß Peter Fintl von der Unternehmensberatung Capgemini und ergänzt: „Damit kehren sich die Verhältnisse um: Bei westlich-chinesischen Joint-Ventures im Reich der Mitte waren bisher immer die ausländischen Partner für Technologie- und Know-how zuständig und die einheimischen Konzerne kümmerten sich vorwiegend um die effiziente Produktion und den Vertrieb. Nun werden chinesische Elektrospezialisten plötzlich als Technologiepartner gesehen.“
Man kann durchaus von Win-Win sprechen
Man könnte meinen, dass Stellantis wie eine Art Technologie-Vampir das Wissen seiner Partner aussaugt. Dem ist nicht so. Die Partnerschaft ist keine Einbahnstraße. „Durch den enorm intensiven Verdrängungswettkampf im chinesischen Automarkt gelingt es nur sehr wenigen Anbietern, ausreichend Gewinn zu erzielen. Daher sind neue Erlösquellen wie die Lizenzierung von Technologie oder Entwicklungspartnerschaften hoch willkommen. Gleichzeitig verstehen westliche Konzerne ihre Heimatmärkte am besten und können neue Technologien in attraktiver Art für ihre Kunden zugänglich machen. Man kann durchaus von einem Win-Win sprechen“, erklärt Fintl.
Also profitiert auch Stellantis. Falls Leapmotor auch in China zur Erfolgstory wird, wäre Tavares‘ oberste Maxime der Profitabilität Genüge getan.