Wer nach einem Lehrbuchbeispiel für ein Dilemma sucht, wird in der deutschen Energiepolitik schnell fündig. Aus Klimaschutzgründen will die Bundesregierung bei Mobilität und Wärme möglichst schnell auf Elektrizität umsteigen. Doch die Stromnetze sind heute noch gar nicht auf eine solche Belastung ausgelegt. Es ist völlig klar, dass der erforderliche Umbau der Netze noch Jahre dauern wird. Was bei Elektroautos bisher die „Reichweitenangst“ war (die Sorge, mangels Lademöglichkeiten auf der Fahrt mit leerem Akku liegenzubleiben) , könnte in den nächsten Jahren die „Abschaltangst“ werden – die Sorge, dass an der Wallbox in der Garage zeitweise kein Strom mehr fließt.

In der aktuellen Situation ist es kaum möglich, alle Interessen unter einen Hut zu bringen. Testprojekte von Stromnetzbetreibern haben zwar ergeben, dass das gleichzeitige Laden von Elektroautos einzelne Netzabschnitte schnell an ihr Limit bringen könnte. Doch wer mangels ausreichender Kapazitäten keine Wallbox mehr genehmigt bekommt, verzichtet vermutlich lieber gleich auf die Anschaffung eines Elektroautos.

Zwangsregelung an sich sinnvoll

Der Vorschlag der Bundesnetzagentur (BNetzA), jedem Kunden einen „Anspruch auf sofortigen Netzanschluss“ zuzusichern, ist daher auf den ersten Blick sinnvoll. Das löst aber auf Seiten des Netzbetreibers nicht das Problem, diesen Anschluss auch mit Strom versorgen zu müssen.

Noch größer als die Abschaltangst dürfte bei den Kunden eine Blackout-Angst sein. Im Gegenzug billigt die BNetzA daher den Betreibern zu, die genehmigte Wallbox oder Wärmepumpe im Notfall auch herunterregeln zu können.

Herunterregeln wohlgemerkt – nicht abschalten. Denn eine Leistung von mindestens 3,7 Kilowatt (kW) soll garantiert geliefert werden können. Was die einen als „Stromrationierung“ bezeichnen, heißt bei anderen „Herunterdimmen“. Die Abschaltangst sollte daher maximal eine Drosselangst sein.

Doch dieses Konzept hat etliche Haken.

Keinerlei zeitliche Einschränkungen

Zunächst sieht das Eckpunktepapier keinerlei zeitliche Einschränkungen vor, was die Eingriffe der Netzbetreiber betrifft. Als Kunde könnte man daher böse Überraschungen erleben, wenn der Anschluss die ganze Nacht gedrosselt wurde und das Elektroauto am nächsten Morgen vor einer langen Fahrt nur halb voll wäre. Denn bei einer „Schnarchladung“ über Nacht mit 3,7 kW würde es fast einen ganzen Tag dauern, um den Akku eines Elektroautos vom Typ Tesla Model Y zu laden.

Der Verband der Automobilindustrie (VDA) weist in seiner Stellungnahme zudem darauf hin: „Die normativ vorgegebene Mindestleistung der überwiegend verbauten, dreiphasigen AC-Ladeeinrichtungen liegt bei ca. 4,2 kW. Bei einer Leistungsreduktion durch den Netzbetreiber darf diese Schwelle daher nicht unterschritten werden.“

Nur 5 kW für Mehrfamilienhäuser und Gewerbe

Inakzeptabel und praxisfern wäre zudem die praktische Gleichstellung von Einfamilienhäusern mit Mehrfamilienhäusern oder Gewerbe. Auch eine Tiefgarage mit 50 Stellplätzen verfügt in der Regel nur über einen einzelnen Anschluss und versorgt die Wallboxen dann über ein internes Lastmanagement. Diese sogenannten Steuerbaren Netzanschlüsse (SteuNA) sollen aber bis auf 5 kW heruntergeregelt werden können.

Gemeinschaftsaktion
Eine Tiefgarage mit 50 Stellplätzen verfügt in der Regel nur über einen einzelnen Anschluss und versorgt die Wallboxen dann über ein internes Lastmanagement. Wird die Stromzufuhr gedrosselt, wären sämtliche Elektroautos betroffen. Foto: ADAC
Gemeinschaftsaktion
Eine Tiefgarage mit 50 Stellplätzen verfügt in der Regel nur über einen einzelnen Anschluss und versorgt die Wallboxen dann über ein internes Lastmanagement. Wird die Stromzufuhr gedrosselt, wären sämtliche Elektroautos betroffen. Foto: ADAC

Das wäre für eine Tiefgarage viel zu wenig. „Eine weniger drastische Herunterregelung für Mehrfamilieneinheiten und Gewerbeimmobilien ist somit dringend zu empfehlen“, schreibt der Bundesverband E-Mobilität (BEM) in seiner Stellungnahme.

Steuerung per Zeitschaltuhr möglich

Das nächste Problem: Bis zum Jahr 2029 dürfen die Netzbetreiber eine sogenannte statische Steuerung vornehmen. Auf Basis zu erwartender Lastspitzen könnten große Verbraucher beispielsweise mit Hilfe von Zeitschaltuhren gesteuert werden. Damit ließe sich verhindern, dass nach Feierabend sämtliche Wallboxen in einem Netzstrang gleichzeitig eingeschaltet würden. Doch auch hier würde es keinerlei zeitliche Einschränkung geben.

Eine solche Lösung dürfte aber recht häufig zum Einsatz kommen. Denn die Netzbetreiber sind noch kaum in der Lage, die Verbraucher flexibel nach Netzlast zu steuern. Dazu müssten sie zum einen die aktuelle Belastung der Verteilnetze kennen, zum anderen mit den Wallboxen über sogenannte Smart-Meter-Gateways kommunizieren können. Doch das ist noch Zukunftsmusik.

Noch kein Netzbetreiber kann dynamisch steuern

So musste die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Unionsfraktion im Januar 2023 einräumen: „In der Niederspannung ist derzeit keiner der abgefragten Verteilnetzbetreiber in der Lage, Netze dynamisch im Sinne des Eckpunktepapiers der Bundesnetzagentur zu steuern.“

Das klingt ernüchternd und hängt auch damit zusammen, dass die Vorgängerregierungen jahrelang den Rollout der vernetzten Stromzähler vermasselt haben. Zwar will die Ampelkoalition die Auslieferung der Gateways mit einem neuen Gesetz beschleunigen. Doch selbst dann dürfte es noch Jahre dauern, bis diese bei den Kunden installiert sind.

Übergangsweise könnten die Wallboxen dann mit Rundsteuerempfänger geregelt werden. Doch wenn dieser nicht in der Lage ist, die Leistung zu drosseln, müssen die Kunden eine vollständige Abschaltung akzeptieren. Aus der Drosselangst würde dann wieder eine Abschaltangst werden.

Zeitvariable Netzentgelte als Alternative

Kein Wunder, dass Verbraucherschützer, Autoindustrie und Wärmepumpenhersteller gegen die Pläne protestieren. Sie lehnen die Möglichkeit der Netzbetreiber „strikt“ab, Wallboxen oder Wärmepumpen zeitlich unbegrenzt abzuregeln. Die Kritik ist völlig nachvollziehbar. Schon die vom früheren Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) vorgesehene „Spitzenglättung“ von zwei Stunden pro Tag erschien vielen überzogen – im Januar 2021 wurde die Idee zurückgenommen.

Die Verbände empfahlen stattdessen „ein präventives Instrument, insbesondere durch zeitvariable Netzentgelte oder Flexibilitätsentgelte“. Das heißt: Das Laden außerhalb der Lastspitzen wäre deutlich günstiger, so dass die Kunden nach Möglichkeit ihr Auto nachts auflüden. Aber auch hier sind in den meisten Fällen vernetzte Stromzähler erforderlich, um solche variablen Tarife nutzen zu können.

Fernsteuerung
Besitzer von Elektroautos mit einer privaten Lademöglichkeit werden derzeit von den Netzbetreibern vorrangig mit Smartmetern ausgestattatet: Wegen des hohen Stromverbrauchs lohnt sich hier eine "Dimmung" am ehesten.
Fernsteuerung
Besitzer von Elektroautos mit einer privaten Lademöglichkeit werden derzeit von den Netzbetreibern vorrangig mit Smartmetern ausgestattatet: Wegen des hohen Stromverbrauchs lohnt sich hier eine „Dimmung“ am ehesten.

Nicht ganz zu Unrecht kritisiert daher die Stromwirtschaft die Pläne der Regierung, dass künftig „jeder Kunde auf Antrag zeitnah ein intelligentes Messsystem eingebaut bekommen kann“. Denn es wird befürchtet, dass die Kapazitäten für den Rollout nicht ausreichen, um zunächst Verbraucher wie Wallboxen anzuschließen, die über die Systeme gesteuert werden könnten.

Ob die Netzagentur noch auf sämtliche Kritikpunkte eingehen wird, ist derzeit unklar.

Wenig Verständnis für Elektromobilität

Die zeitlich unbegrenzte Möglichkeit zur Abregelung dürfte kaum zu halten sein. Das gilt auch für die Mindestleistung von 3,7 kW sowie die Begrenzung von steuerbaren Netzanschlüssen auf 5 kW. Dass der Regulierungsbehörde offenbar ein gewisses Verständnis für die Herausforderungen der Elektromobilität fehlt, machen aber ihre Aussagen auf einer Informationsveranstaltung zum Eckpunktepapier im vergangenen Dezember deutlich.

Nach Angaben des Beratungsunternehmens Consentec hat die Behörde argumentiert, dass die Abregelung auf 3,7 kW beim Laden nicht mit Komforteinbußen verbunden sei. „Dieses Argument ist aber offensichtlich nicht haltbar, da dies im Umkehrschluss bedeuten würde, dass Verbrauchseinrichtungen mit Maximalleistungen über 3,7 kW systematisch überdimensioniert wären und somit möglichst gar nicht verkauft werden sollten“, heißt es in der Stellungnahme) von Consentec für die Verbraucherschützer.

Das wäre in der Tat absurd, denn die Bundesregierung hat die Förderung von privaten Wallboxen schließlich davon abhängig gemacht, dass diese mindestens über eine Leistung von 11 kW verfügen. Nun scheint der Regulierungsbehörde eine Leistung von 3,7 kW als ausreichend, selbst wenn bei Drehstrom-Wallboxen laut VDA das Laden dann gar nicht möglich ist.

Zweifellos ist die Umstellung von Wirtschaft, Verkehr und Energiesystem auf Klimaneutralität eine Jahrhundertaufgabe. Leider zwingen die jahrzehntelangen Verzögerungen bei Klimaschutz dazu, diese Aufgabe in wenigen Jahren bis Jahrzehnten umsetzen zu müssen. Ein Dilemma, das nicht nur beim Ausbau des Stromnetzes noch für reichlich Streit und Konflikte sorgen wird.

Die Abschaltangst könnte irgendwann zu geringsten Sorgen gehören.

Artikel teilen

Kommentar absenden

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert