Markus Schäfer ist keiner, der zu großartigen Gefühlsausbrüchen neigt. Doch als der Mercedes-Technikvorstand den Satz „uns ist die Mondlandung geglückt“ spricht, ist ihm der Stolz deutlich anzumerken. Die Freude ist verständlich, denn Schäfer verkündet im gleichen Atemzug, dass Mercedes auf den deutschen Autobahnen künftig den „Drive Pilot“ nutzen und somit bis 60 km/h das automatisierte Fahren auf Level 3 möglich ist.
Der Bordcomputer übernimmt dann für eine unbestimmte Zeit gewisse Fahraufgaben. Anhand der Informationen, die ihm eine kleine Armada von Kameras und Sensoren liefern, analysiert er Streckenverlauf, Verkehrszeichen und Verkehrssituationen und regelt entsprechend Geschwindigkeit, Abstand und und Position auf der Fahrbahn zu anderen Verkehrsteilnehmern. Er macht beispielsweise auf die Fahrbahn frei, wenn sich von hinten ein Rettungswagen oder ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht nähert. Der Fahrer kann derweil die Hände vom „kapazitiven“ (mit Sensoren gespickten) Lenkrad nehmen und sich anderen Dingen zuwenden – er muss aber jederzeit bereit sein, wieder die Kontrolle über das Fahrzeug zu übernehmen, etwa wenn sich der Stau vor ihm wieder auflöst oder er vom Fahrzeug dazu aufgefordert wird.
Mercedes ist der erste Automobilhersteller weltweit, der diese Funktion in seine Fahrzeuge einbauen darf. Audi hatte ein ähnliches System schon vor ein paar Jahren im Topmodell A8 vorgestellt, scheiterte aber anschließend an der Freigabe. Auch bei BMW wollte ursprünglich mit dem neuen Elektroauto iX dieses Jahr schon die Tür zum selbstständig agierenden Auto aufstoßen. Die Umsetzung der ambitionierten Pläne lässt dort noch auf sich warten.
Und der so genannte, vielgerühmte „Autopilot“ von Tesla? Rangiert offiziell immer noch auf Level 2. Jennifer Homendy, Leiterin der US-Sicherheitsbehörde National Transporation Safety Board (NTSB), nannte die Vermarktung des Autopiloten und seines jüngsten Updates deshalb „irreführend und unverantwortlich“.
Weltweit erste Typgenehmigung
Anders als bei Mercedes. „Das Kraftfahrt-Bundesamt hat am 2. Dezember 2021 die weltweit erste Typgenehmigung im Bereich des automatisierten Fahrens für ein automatisches Spurhaltesystem (Automated Lane Keeping System – ALKS) für ein Modell des Herstellers Mercedes-Benz erteilt. Grundlage ist die UN-Regelung Nr. 157, die international harmonisierte Sicherheitsanforderungen an automatisierte Spurhaltesysteme definiert“, heißt es in einer Pressemitteilung des KBA sperrig.
Damit ist ein wesentlicher Schritt hin zum vollautonomen Fahren gemacht, denn der Übergang von Level 2 plus, was viele Autos derzeit beherrschen, auf Level drei ist gigantisch. Schließlich übergibt der Fahrer der Fahrzeugtechnik die Verantwortung, was einen ganzen Rattenschwanz an Konsequenzen nach sich zieht. Vor allem in puncto Haftung: Wenn das Fahrzeug autonom unterwegs ist und einen Unfall baut, haftet der Hersteller – nicht der Fahrer.
Den Anfang macht die Mercedes S-Klasse, die ab Mitte des nächsten Jahres mit dem Robo-Chauffeur zu haben sein wird. Zwei, drei Monate später, voraussichtlich im Oktober, ist dann das Elektro-Flaggschiff EQS dran. Wie hoch der Aufpreis sein wird, kann Markus Schäfer noch nicht sagen. Der Vorstand für technische Entwicklung rechnet aber damit, dass die Nachfrage durchaus hoch sein wird. „Das hat das Interesse am Hyperscreen gezeigt, das unsere Erwartungen übertroffen hat“, erklärt der Manager.
Der Weg zu diesem Auto-Piloten war steinig. Damit das System funktioniert, musste gemeinsam mit den Lieferanten eine neue LIDAR-Einheit und neue leistungsfähige Kameras entwickelt werden. Die Software haben die Mercedes-Ingenieure selbst geschrieben. Sicherheit steht bei Mercedes ganz oben. Eigenständig zickzackfahrende S-Klassen wären für das Image des deutschen Premiumautobauers alles andere als zuträglich. „Deswegen dauern manche Sachen etwas länger“, sagt Markus Schäfer. Dazu kommen noch über 13.000 Erprobungskilometer auf dem Mercedes-Testgelände, um das Drive Pilot getaufte System standfest zu bekommen.
Alle Fahrmanöver werden aufgezeichnet
Anders als Tesla-Chef Elon Musk, der nach wie vor der festen Meinung ist, dass kamerabasierte Systeme reichen, um sein voreilig „Autopilot“ genanntes Fahrer-Aussitenzsystem alltagstauglich zu machen, setzen die Mercedes-Ingenieure vorsichtshalber auf ein ganzes Bündel von Sensoren, Kameras und Radareinheiten. „Wichtig ist die Redundanz“, erklärt Technikvorstand Schäfer. Mindestens zwei Systeme müssen immer funktionsfähig sein und den Verkehr überwachen. Ist das nicht der Fall, muss der Fahrer wieder das Kommando übernehmen. Übrigens auch dann, wenn er einschläft oder Zeitung liest, weil da seine Augen nicht sichtbar sind.
Um die Haftung zu gewährleisten, wird jedes Fahrmanöver vom Fahrzeug aufgezeichnet und per Over-the-Air-Updates auf dem neuesten Stand gehalten. Deswegen sind neben der UN-Regelung Nr. 157 auch noch die UN-R 155 (Cybersecurity) und die UN-R 156 (Software-Updates) bei der Entwicklung eingeflossen. So soll auch sichergestellt werden, dass die Daten sicher sind.
Nach dem deutschen Markt soll das System in den USA und in China auf den Markt kommen. Doch im Reich der Mitte können die Regularien von Provinz zu Provinz beziehungsweise in den großen Städten unterschiedlich sein, was die Zulassung verzögert. Shenzen hat jetzt den Anfang gemacht und die Parameter für das autonome Fahren festgezurrt.
Zum nächsten Schritt mit Tempo 130
Technisch ist kein Problem, den Robo-Chauffeur in weitere Märkte zu bringen. Wichtig ist nur, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen stimmen. „Die Frage ist außerdem, wie groß die Märkte sind“, sagt Markus Schäfer. Bei Mercedes arbeiten sie derweil schon an den nächsten Ausbaustufen des Drive Pilot. Auf dem Plan stehen Geschwindigkeiten bis zu 130 km/h und der automatisierte Spurwechsel.
„Luxus ist auch die Zeit, die der Fahrer hat“; verdeutlicht Schäfer. Die Funktionsvielfalt hat auch noch weitere Auswirkungen. Bei der S-Klasse hat das System mittlerweile Zugriff auf rund 50 Steuergeräte und so lassen sich auch Abo-Geschäfte realisieren, um neue Elemente freizuschalten. Der schwäbische Autobauer will dabei die Geschicke in der eigenen Hand behalten. Deswegen definiert Mercedes die Hardware inklusive der Computer Chips. Dass die Software auch aus Sindelfingen und Umgebung kommen wird, ist ohnehin klar. Mit der neuen Kommandozentrale dürften dann auch die nächsten Schritte beim autonomen Fahren einhergehen.