In der Tàrraco Arena werden schon lange keine Stierkämpfe mehr ausgetragen. Statt Blut fließt in dem historischen und inzwischen mit EU-Mitteln überdachten Rundbau in der Altstadt von Tarragona nun regelmäßig jede Menge Schweiß: Bei Wettbewerben der Menschentürme wetteifern katalanische Vereine darum, möglichst viele ihrer Mitglieder möglichst hoch zu schultern – ohne dabei die Balance zu verlieren und das ganze engumschlingende Konstrukt zum Einsturz zu bringen.
Insofern war das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert der perfekte Platz für den zweiten sogenannten „EV-Day“ von Kia. Der südkoreanische Autobauer verfolgt seit der Neuaufstellung 2021 überaus ehrgeizige Wachstumspläne und setzt dabei nicht nur stark auf den europäischen Automobilmarkt, sondern auch auf das Elektroauto. Mit der Premium-Limousine Kia EV6 hat das Unternehmen dazu vor vier Jahren die Basis gelegt, die 2023 mit dem Luxus-SUV EV9 verbreitert und im vergangenen Jahr mit dem Kompakt-SUV EV3 wunderbar ergänzt wurde.

Chefdesigner Karim Habib hat Kia mit der Designphilosophie „Opposites United“ seinen Stempel aufgedrückt. Dem neuen Kleinen auch.
Nun geht die designorientierte wie sportliche Hyundai-Schwester daran, die zweite Etage des vollelektrischen Modell-Turms in Angriff zu nehmen. Mit einem kleinen EV2 und dem Mittelklasse-Modell EV4 sowie dem PV5 – dem ersten Angebot von Kia im Marktsegment der leichten Nutzfahrzeuge. Und die nächsten Stromer sind bereits in der Entwicklung. Während die europäischen Autohersteller derzeit ein wenig wanken und die Politik bearbeiten, ihnen mehr Zeit für die Antriebswende zu gebe, steht Kia-Präsident und -CEO Ho Sung-Song fest zu seiner Elektro-Strategie. Ja, die Marke werde noch eine Weile Fahrzeuge mit konventionellen Antrieben anbieten. Aber die Zukunft gehöre der Elektromobilität. „Wir sind auf Kurs und bleiben in der Spur“, versicherte er im Gespräch mit EDISON.
EV2 für 30.000, EV4 ab 37.000 Euro
Zumal er mit den neuen Modellen Angebote macht, die technisch mit einigen Finessen glänzen, optisch mit der von Designchef Karim Habib entwickelten neuen Designsprache „Opposites United“ für Aufsehen sorgen dürften und die vor allem preislich hochattraktiv sind: Der 4,06 Meter lange EV2 – der in Tarragona noch als (seriennahe) Konzeptstudie vorgestellt wurde – soll ab kommendem Jahr zu einem Basispreis von 30.000 Euro angeboten werden. Der PV5 wird in der einfachsten Cargo-Version schon für 35.000 Euro zu haben sein. Und der EV4, der als viertürige Fließhecklimousine von 4,73 Meter Länge und in einer 30 Zentimeter kürzeren, fünftürigen Schrägheckversion angeboten wird, startet schon in diesem Herbst mit einem Preis von rund 37.000 Euro. Da werden einige Wettbewerber mächtig ins Grübeln kommen. Beispielsweise Volkswagen: Der ID.Buzz – der direkte Wettbewerber des PV5 – ist in der Cargo-Version nicht für unter 50.000 Euro zu bekommen.

Die Optik der Fließheck-Limousine ist gewöhnungsbedürftig, der cW-Wert von 0,23 aber beeindruckend gut – so gut wie beim VW ID.7.
„Der Kia EV-Day, so Ho Sung Song, „zeigt unsere Vision einer nachhaltigen Zukunft, in der Elektromobilität für alle erschwinglich ist.“ Gebaut werden sollen beide Modelle im slowakischen Teplicka – dem nach Ansicht des Kia-Chefs bei allen Schwankungen weltweit wichtigsten Markt für Elektroautos.
Für vergleichsweise niedrige Produktionskosten sorgt aber nicht nur die Produktion in einem Niedriglohnland, sondern auch eine hochflexible Plattformarchitektur, die ganz nach dem Geschmack des früheren VW-Konzernchefs Ferdinand Piech gewesen wäre. An die Preiskalkulation chinesischer Autohersteller, musste Sung Song einräumen, komme er trotz aller Maßnahmen aber nicht heran: „Die produzieren nochmals 20 Prozent günstiger als wir – die Lücke ist nicht zu schließen.“ Trotzdem, man höre und staune, verdiene auch Kia mit seinen Elektroautos ordentlich Geld.
400-Volt-Architektur muss genügen
Verschiedene Radstände und verschiedene Aufbauten lassen sich dank der E-GMP-Plattform leicht mit Elektromotoren in unterschiedlicher Zahl und Stärke sowie mit Antriebsbatterien in unterschiedlichen Größen kombinieren. So wird der Kia EV4 – wie schon der EV3 – mit Akkus ausgeliefert, die wahlweise 58,3 oder 81,4 kWh Strom speichern können. Damit kommt die Limousine 430 beziehungsweise 630 Kilometer weit. Beim Schrägheckmodell beträgt die Reichweite beträgt die Reichweite 410 Kilometer mit dem kleinen und 590 Kilometer mit dem großen Akku. Für den Antrieb sorgt dabei ein Elektromotor mit 150 kW (204 PS) an der Vorderachse, der den EV4 bis auf 170 km/h beschleunigen kann – Tempo 100 soll nach 7,1 Sekunden erreicht sein. Für einen niedrigen Verbrauch dabei sorgt eine exzellente Aerodynamik mit einem cW-Wert von 0,23.

Vor allem für den europäischen Markt konzipiert ist die Schrägheckversion des kompakten Elektroauto mit großer Heckklappe. Fotos: Thorsten Weigl für Kia
Einziger Wermutstropfen für Kunden in Europa: Da der EV4 wie der EV3 aus Kostengründen mit einem 400-Volt-Bordnetz auskommen muss, kann Gleichstrom am Schnelllader mit maximal 135 kW aufgenommen werden. Es braucht deshalb 31 Minuten, um den Ladestand des großen Akkus von 10 auf 80 Prozent zu heben. Der Kia EV6 braucht dafür dank einer 800-Volt-Architektur nur 17 Minuten. Das Fahrzeug, entgegnete Ho Sung-Song, sei allerdings auch für andere Einsatzzwecke und eine andere Zielgruppe konzipiert – und deutlich teurer.
EV2 macht Skoda Epiq Konkurrenz
Größeren Bedarf gibt es in der Tat in Europa vor allem an preisgünstigen Elektroautos. Und da will Kia mit dem EV2 schon im kommenden Jahr ein erstes Angebot machen – etwa zeitgleich mit dem Skoda Epiq, dem gleichgroßen Mini-SUV aus dem VW-Konzern. „Das ist das kleinste SUV in unserer Modellpalette. Eine Oase der Praktikabilität, die zum Picknick in der Stadt einlädt“, schwärmt Designchef Habib über das neue Einstiegsmodell.
Technische Details über das neue Modell wollten sie in Tarragona noch nicht verraten – Antriebsleistung und Batteriekapazität sind noch Geheimsache. Nur so viel wurde gesagt: Standardmäßig werden kostengünstige LFP (Lithium-Eisenphosphat)-Akkus verbaut, gegen Aufpreis wird es auch hier einen größeren NCM (Nickel-Mangan-Cobalt)-Akku geben. Und: Die sich gegenläufig öffnenden Schwenktüren der Studie werden es nicht in die Serienproduktion schaffen. Da sei eine eher konventionelle Lösung zu erwarten. Schon aus Kostengründen.

Über eine Rampe, die auf Knopfdruck aus dem Fahrzeugboden herausfährt, gelangen Menschen im Rollstuhl in den Fahrgastraum.
Mit einer pfiffigen Türlösung wartet dafür der Kia PV5 WAV auf – eine Version des „Platform Beyond Vehicle“ für den Transport von Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Transporte dieser Art sind bei Pflegediensten an der Tagesordnung. Genutzt werden dafür Spezialfahrzeuge mit Rampen, die in der Regel an die Heckklappe des Kleinbusses angesetzt werden. Bei Kia halten sie die Lösung für unkomfortabel bis gefährlich. Denn der Rollstuhl muss, um in den Innenraum des Fahrzeugs zu gelangen, hier zunächst über die Bordsteinkante hinweg auf die Fahrbahn gerollt werden. Beim PV5 WAV hingegen wird nach Öffnen der rechten Seitentür auf Knopfdruck eine leichte Aluminiumrampe aus dem Fahrzeugboden fahren, über den der Rollstuhl in den Innenraum geschoben werden kann. Um Platz zu schaffen, wird dafür die hintere Sitzbank ruckzuck zusammengefaltet.
PV5 startet mit einer Vielzahl von Varianten
Kia will aber nicht nur bei Pflegediensten mit seinem ersten Elektro-Transporter punkten, sondern auch bei Handwerkern, Großfamilien und Taxiunternehmen. Durch die Kooperation mit dem Fahrdienst Uber hat das Unternehmen in Erfahrung gebracht, wo den Fahrern von Miet- und Lieferwagen der Schuh drückt – und maßgeschneiderte Lösungen entwickelt. Die Plattform-Strategie der Koreaner beweist auch hier ihre Stärken: Angeboten werden sollen im ersten Anlauf vier Varianten des Fahrzeugs. Den PV5 wird es als Kleinbus (Passenger) geben, als geschlossenen Kastenwagen (Cargo) sowie in einer Version für den Transport von Bautrupps (Crew). Aber auch nur als Fahrgestell (Cab), um darauf eine Pritsche, eine Kühlbox oder einen Campingaufbau zu montieren. Kia hat dazu Partnerschaften unter anderem mit Hymer und Westfalia geschlossen.

Den Elektro-Transporter gibt es in einer Vielzahl von Ausführungen. Hier die Version mit zwei Sitzreihen für Handwerkstrupps.
Die Antriebe des PV5 kommen hingegen aus dem Kia-Regal. Der Frontmotor hat einen Leistung von 120 kW und ein maximales Drehmoment von 250 Newtonmetern. Genau – den gibt es auch für den EV3. Bei den Batterien hat der Kunde die Wahl zwischen einer Kapazität von 51,5 und 71,2 kWh, die Cargo-Version wird für Einsätze allein im Stadtverkehr auch mit einem 43,3 kWh-Akku angeboten.
Größere Modelle kommen noch
Mit dem großen Akku wird der Transporter bis zu 400 Kilometer weit kommen, also in etwa so weit wie der ID.Buzz Cargo (385 Kilometer). Und das zu einem deutlich günstigeren Preis. Auch die VW E-Caravelle (315 Kilometer Reichweite für 66.000 Euro) und der elektrische Ford Transit Custom (ab 58.000 Euro) dürften da im Handel mächtig unter Druck geraten. Auch, weil der Kia PV5 unter anderem mit einem Fassungsvermögen von 5,1 Kubikmetern, einer extrem niedrigen Ladekante von knapp 42 Zentimetern und der Möglichkeit, den Antriebsakku auch zum Betrieb von elektrischen Geräten zu nutzen (Stichwort V2L) viele praktische Qualitäten aufweist. Und obendrein sehr cool daher kommt.

Den Kia EV4 gibt es auch in der Version GT Line mit Mattlack. An der schlechten Zugänglichkeit des großen Kofferraums und der Kollisionsgefahr mit der elektrischen Klappe dahinter ändert das aber nichts. Foto: Rother
Selbstverständlich ist das Fahrzeug voll vernetzt und mit Assistenzsystemen vollgestopft, die Software kann „over the Air“, also über eine Mobilfunkverbindung upgedatet werden. Auch eine Lösung für die Integration des Fahrzeugs in ein Flottenmanagement-System haben sie in Korea zusammen mit den Spezialisten von Samsung schon vorbereitet.
Und der PV5 ist erst der Anfang der Kia-Offensive im Nutzfahrzeuggeschäft: Mit dem PV7 und dem PV9 stehen im neuerrichteten Werk in Korea bereits zwei größere Elektro-Transporter in den Startlöchern. „Wir haben lange gezögert, in das Geschäft einzusteigen“, räumt Kia-Präsident Ho Sung-Song ein. „Aber die Antriebswende hat uns nun eine Tür geöffnet.“ Soll wohl heißen: Die eine oder andere Etage könnte dem Turm noch hinzugefügt werden. Auch im Pkw-Geschäft. Zum Beispiel ein EV1 für unter 25.000 Euro als Gegenstück zum Hyundai Inster und dem VW ID.2. Und ohne dass der Kia-Turm ins Wanken gerät.