Langsam verlieren wir die Übersicht. Unentwegt, ja mindestens monatlich, tauchen bei uns neue chinesische Elektroautos auf. Von Marken, die hier vorher kein Mensch kannte. Zum Beispiel diese Ora-Truppe, die vollelektrische Tochtermarke des Great Wall Motor-Konzerns mit Sitz in Baoding. Einer der großen privaten Big Player im Reich der Mitte, der schon 2021 weltweit fast 1,3 Millionen Autos verkaufte. Nebenbei enger Kooperationspartner von BMW. Nur damit Sie wissen, mit wem wir es hier zu tun haben.
Und Ora, man ahnt es schon, ist eine dieser neuen Automobilmarken, die speziell die jüngeren, schwer digital orientierten Menschen mit hipper Optik und viel Software-Zauberei ködern soll. Genau, wir reden hier von der Generation Z („Post Millennials“), die zwischen Mitte der 1990er und 2010er Jahre geboren wurde. Für die soll Oras neuer Funky Cat nach dem Willen seiner Marketing-Strategen der perfekt passende gute Kumpel sein. Mindestens ein guter Freund. Und extra dafür haben die berufsmäßigen Schönredner mit „Car-paninon“ sogar ein lustiges neues Wort erfunden.
Deshalb sieht dieses Auto, dass bei uns für Ora die Pionier-Rolle spielt, nun zwar nicht aus wie eine „irre Katze“, aber cool und krass genug, um die erwähnte Klientel anzumachen. Optisch mit den kugligen Glubschaugen so in der Retro-Mitte zwischen Mini Cooper und VW Käfer. Hübsch jenseits des langsam langweiligen SUV-Booms. Und mit dieser handlichen Länge von 4,24 Metern (1,83 Meter Breite!) betont parkplatzfreundlich für gestresste Großstädter. Damit ist der Viertürer mit der großen Heckklappe auch ein interessanter Konkurrent für Teslas Model 3, den elektrischen ID.3 von VW und den kommenden Opel Astra-Stromer. Aber natürlich genauso ein Rivale für die elektrischen Kurzen a la Opel Corsa Electric oder Renault Zoe.
Erstaunlich viel Platz im Innenraum
Und dank des Radstandes von 2,65 Metern finden wir im wirklich fein ausgekleideten Innenraum unerwartet Platz in Hülle und Fülle. Schon der Einstieg (kleines Lob für die soliden Türgriffe) funktioniert selbst für unsereins (1,94 Meter Körpergröße) verrenkungsfrei bequem. Dazu gibt es in beiden Sitzreihen viel Bewegungs- und eine geradezu hutfreundliche Kopffreiheit. Tatsächlich auch auf der Rückbank. Sämtliche Sitzgelegenheiten passen ordentlich für jedes menschliche Format, gegen Extra-Geld gibt es sie für den Fahrer und den Beifahrer sogar mit Belüftung und einer netten Massagefunktion, deren angenehme Rücken-Kneterei wir mehrfach genossen haben.
Sorry, dürfen wir die Uhr noch mal kurz zurückdrehen? Wir haben nämlich ganz vergessen, dass der Chinese seinen Besitzer schon per Face ID erkennt, freundlich zwinkert und dann zuvorkommend automatisch auch gleich die Sitze passend einstellt. Ebenso die komplette Klimatisierung ganz nach dem individuellen Wohlbefinden.
Per Zuruf öffnet uns der Fünfsitzer zudem die Seitenfenster, die Heckklappe oder das Glasdach. Und im Stau vertreibt er dem Fahrer die Wartezeit entweder mit diversen Spielen auf dem größeren Touch-Zentraldisplay oder dem Abspielen seiner Lieblingsmusik, die hier über die Streaming-App Deezer (demnächst folgen Spotify und YouTube) herbeigezaubert wird. Je nach Stimmungslage, die von der Kamera im Innenraum signalisiert wird. Und bei Bedarf gibt der Bordcomputer Restaurant-Empfehlungen, die auf unsere speziellen Vorlieben abgestimmt sind.
„Charly“ versteht jedes Wort
Fest steht: Dieser Sprachassistent, dem man neben der Standard-Ansprache („Hello, Ora“) sogar einen eigenen Namen verpassen darf (wir haben ihn „Charly“ genannt), ist viel verständnisvoller als die Quatschsysteme eines VW ID.3 und diverser anderer Konkurrenten, die, wenn wir uns jetzt mal gerade erinnern, am liebsten nur auf gängig vorgestanzte Sprüche reagieren. Ja, Freund Ora will uns sogar im Stau aufmuntern. Auf die Ansage „Mir ist langweilig“ (der Standardspruch aller Kids nach spätestens einer Reisestunde) kann sein Unterhaltungsfritze mit uns sogar eine Runde Geo-Quiz (mit Hauptstädte raten und so) spielen. Mussten wir ausprobieren.
„Charly“ fragt auch gern mal besorgt nach. Etwa so: „Wollen Sie wirklich die Fenster öffnen, es regnet doch gerade.“ Oder der Gute warnt mich, weil ich mal gerade nach meinem in den Fußraum abgestürzten Notizbuch hangele, mit dem erhobenen Zeigefinger. „Seien Sie nicht geistesabwesend, bitte Konzentration beim Fahren.“ Zu Befehl, Charlie. Demnächst könnten wir hier übrigens auch die Fußball-Bundesliga verfolgen, dann läuft nämlich auch die DAZN-App. Die aktuellen Weltnachrichten von Reuters gibt es jetzt schon.
Software-Updates over the air
Überhaupt das Digitale. Das kann er wirklich. Induktive Aufladung des Smartphones? Selbstverständlich. Videos oder Fußball gucken? Gerade erwähnt. Automatisch in die nächste Parklücke? Schafft er. Apple CarPlay und Android Auto? Zum Verkaufsstart an Bord. Das Infotainment-Programm? Alles da, gleich mehr dazu. Over-the-Air-Updates? Schon in Betrieb. Dazu läuft sich bereits die Ora-App, mit der sich dann gängige Elektro-Fernzugriffe erledigen lassen, zunehmend warm. Was hier vielleicht nicht so toll ist? Naja, die Icons auf dem Mittelscreen sind ziemlich klein geraten. Augenpulver für empfindliche Brillenträger.
Noch ein kurzer Blick aufs ganze Cockpit dieses Ora, das im Stil der neuen Zeit ziemlich minimalistisch daherkommt. Oben mit diesem freundlichen Kunstleder bezogen, dass sich täuschend echt wie edles Alcantara anfühlt. Richtig, mit Steppnaht. Keine Flut von Knöpfen und Schaltern, die meisten Funktionen lassen sich ja ohnehin mit Sprachbefehlen steuern. Ideal in Griffweite der schicke große Drehregler auf der Mittelkonsole, der für die Gangwahl zuständig ist. Und ganz links vom Zweispeichen-Multifunktionslenkrad der Schalter für die Fahrmodi von Eco bis Sport.
Zwei Akkus mit 45 und 60 kWh
Noch schnell was zur Technik des Stromers. Es gibt ihn mit zwei Batteriegrößen: Die kleine des Funky Cat 300 mit 47,8 kWh (netto 45,4), die nach europäischer WLTP-Norm für 310 Kilometer gut sein soll, sowie die große Version (Funky Cat 400) unseres Testwagens, die mit ihren 63,1 kWh (netto 59,3) bis zu 420 Kilometer Reichweite (GT: 400 km) erlauben soll. Für den reinen Stadtverkehr dürfte man da sogar mit mindestens 450 Kilometern rechnen.
Spannend ist die Chemie des kleineren Akkus, denn hier handelt es sich schon um Lithium-Eisenphosphat-Zellen, die besonders sicher und langlebig sind. Zulieferer ist in diesem Fall der chinesische Branchenriese CATL, der ja unter anderem auch Tesla bedient. Die Zellen der großen Batterie („Ternäre Lithium“) sind hingegen mehr die Klassiker. Nutzen Lithium-Nickel-Kobalt-Manganat als positives Elektrodenmaterial und Graphit als negatives Elektrodenmaterial.
Sonst noch was? Ja, diese geräumige, fünfsitzige Funky Cat-Limousine hat generell einen Frontantrieb und in jedem Fall den permanent erregten Synchronmotor mit einer elektrischen Antriebsleistung von 126 kW (171 PS). In Vorbereitung sei auch schon eine leistungsstärkere Version mit immerhin 150 kW (204 PS) hören wir bei Ora hinter vorgehaltener Hand. Würde dann besonders nett zu dieser sportlich gestylten GT-Version passen, die wir noch beschreiben werden.
Und wie fährt sich das Teil? Das erfahren Sie im zweiten Teil.
Klingt alles recht positiv, wenn auch nichts zu den Fahrleistungen und Bremsen gesagt wird, dito innere Sicherheit.
Mich wundert aber, dass die elektronische Überwachung durch Innenkamera und Befehle des Bordcomputers nicht kritischer hinterfragt wird: Statt „Big brother is watching you“ nun also „Funky Cat is watching you“ ? Und mit der Zentrale in China, die uns dann alle überwacht?